Lärm ist Liebe
Der illegale Sender, den ein paar Freunde in einer Kleinstadt in der Bretagne betreiben, heißt Radio Warsaw; der ursprünglich Name der britischen Postpunk-Band Joy Division. Gesendet wird aus einer Dachkammer, der charismatische Jerôme (Joseph Olivennes) schwärmt am Mikrofon schon mal vom Marquis de Sade. Sein introvertierter kleiner Bruder Philippe (Thimotée Robart) fungiert als Tontechniker.
„Wer Nacht sagt, sagt auch Krach“, lautet ihr Motto, sie spielen Musik, die euphorisch ist und laut, von den Undertones, Iggy Pop, den Sonics, Gang of Four. Joy-Division-Sänger Ian Curtis hat sich einige Monate zuvor umgebracht, den Mitschnitt seines finalen Konzerts kündigt Jerôme als „letzten Aufschrei des Engels“ an. „Wir waren Outlaws“, erinnert sich Philippe. Außenseiter in der Provinz zu sein, kann sich anfühlen, wie zu den Auserwählten zu gehören. Vorausgesetzt, man lässt die Provinz irgendwann hinter sich.
Regisseur Vincent Maël Cardona erzählt in seinem Debüt „Die Magnetischen“ von einer rauschhaften Zeit des Übergangs. Sein Coming-of-Age-Drama spielt im Jahr 1981, am Anfang wird in einer Bar der Sieg von François Mitterrand bei der Präsidentschaftswahl gefeiert. Das Land ist in Aufbruchstimmung, hofft auf eine bessere, linke Zukunft. Philippe sitzt teilnahmslos daneben, sagt: „Ich war für Giscard.“ Provokation oder Überzeugung? Von der Politik erwarten die Jugendlichen wenig.
Die Brüder leben mit dem Vater (Philippe Frécon) in einem klaustrophobischen Haus voll dunkler Möbel. Die Mutter ist schon lange ausgezogen. Jerôme – Lockenkopf, Schnauzbart, weit aufgeknöpftes Hemd – rebelliert, legt sich mit dem autoritären Vater an und bekommt dafür eine Ohrfeige. Seinen Job in einer Kfz-Werkstatt verliert er. Er neigt zum Jähzorn, der ins Autoaggressive kippen kann. Typ: der junge Gérard Depardieu. Philippe – große dunkle Augen, eckige Ian-Curtis-Frisur – bewundert den Bruder, sucht noch seine Rolle, geht jeder Konfrontation aus dem Weg.
Der Klang analoger Magnettonbänder
Der Titel „Die Magnetischen” ist doppeldeutig, er spielt an auf die Magnettonbänder, mit denen sie beim Piratensender hantieren, und auf die zwischenmenschlichen Anziehungskräfte. Marianne (Marie Colomb), die Sängerin werden wollte und über ein bezauberndes Lächeln verfügt, ist gerade aus Paris zurückgekehrt, weil sie eine kleine Tochter hat. Jetzt arbeitet sie im Friseursalon.
In einer hinreißenden Szene nimmt Philippe mit ihr im Studio einen Jingle auf, lässt sie immer wieder die Zeile „P wie Peace“ aufsagen, mal gefühlvoll, mal distanziert, mal flüsternd, unterlegt ihre Stimme mit Geräuschen – Hundebellen, Kirchenglocken, Marschrhythmen – und spielt das Hörspiel in einer Endlosschleife ab. Man spürt den Magnetismus zwischen ihnen, Marianne sagt: „Das ist cool.“ Aber zusammen ist sie dann doch lieber mit Jerôme. Ein Liebesdreieck, in dem einer verloren geht.
Auf der diesjährigen Berlinale begann auch Mikhaël Hers“ „Les passagers de la nuit“ mit den Feiern zu Mitterrands Wahlsieg. Und auch dort spielt das Radio eine Rolle, Charlotte Gainsbourg arbeitet nach ihrer Scheidung als Assistentin bei einer nächtlichen Talkshow. Doch während „Les passagers de la nuit“ in den Pastellfarben der Achtziger schwelgt, zeigt Vincent Maël Cardona, der mit dem César für den besten Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde, die Brüchigkeit des Jahrzehnts. Mit Kameramann Brice Pancot hat er sich an der Körnigkeit analoger Filme orientiert. Den Soundtrack dazu liefern die nihilistischen und depressiven Songs von Joy Division, Throbbing Gristle und Trisomie 21. Der Kreativitätsschub der Ära war der Do-it-yourself-Haltung des Punk zu verdanken.
Mitterrand siegt, Bob Marley stirbt
Einen Tag nach Mitterrands Triumph, am 11. Mai 1981, starb Bob Marley; ein schlechtes Omen, glaubt Jerôme. Damit es vielleicht doch noch gut wird, muss in „Die Magnetischen“ erst einmal viel schiefgehen. Um dem Wehrdienst zu entgehen, spielt Philippe einen gestörten Sonderling: Er trägt die Strickjacke seines Vaters, bewegt sich greisenhaft, sabotiert den Sehtest.
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Die Psychiaterin beginnt zu weinen, nachdem sie in seiner Akte geblättert hat. Aber es stellt sich heraus, dass sie bloß eine Putzfrau ist. Der echte Psychiater diagnostiziert Mutismus, stempelt aber trotzdem „wehrfähig“ aufs Papier. Also rammt sich Philippe einen Stift ins Bein. Thimotée Robart ist brillant, eine groteskere Musterung hat man seit Horst Buchholz’ Auftritt in „Felix Krull“ nicht gesehen.
(In elf Berliner Kino (OmU); Deutsche Fassung: b-ware!, Filmkunst 66)
Den Militärdienst absolviert Philippe in Westberlin. Zuvor lässt er sich noch von Marianne die Haare kürzen. Großaufnahmen der Gesichter, Blicke suchen einander im Spiegel, ihre Finger massieren seinen Kopf: ein erotisches Spiel zum Chanson „Le premier pas“. Philippe würde gern den ersten Schritt tun, weiß aber nicht wie. Marianne schenkt ihm für die Reise noch ein liebevoll zusammengestelltes Mixtape mit deutschem Indie-Pop von Nina Hagen bis Malaria.
Der Dienst im französischen Sektor von Berlin ist an Ödnis kaum zu überbieten. Philippe muss Kantinentische decken, was er tanzend mit Kopfhörer erledigt. Im dandyhaften Militärradiomann Èdouard (Antoine Pelletier) trifft er einen Enthusiasten, der noch an die subversive Kraft seines Metiers im Kalten Krieg glaubt: „Wenn die anderen auf Pop abfahren, ist die Mauer schon fast gefallen.“ Sie erleben eine Punk-Party in einer Ostberliner Kirche, nehmen Ecstasy, worauf Philippe für zwei Tage im Militärgefängnis landet.
Schließlich bekommt er die Chance, als Techniker beim legendären britischen Soldatensender BFBS zu helfen. Philippe ruft Marianne an, beschwört sie, am nächsten Abend das Radio auf der Langwelle einzuschalten. Doch im Studio fehlen ihm wieder die Worte, stattdessen dreht er die Regler auf Anschlag, lässt Mikrofone vor Lautsprechern pendeln, entfacht ein irres Feedback. Ich liebe dich, will der Lärm sagen.