Weitere antisemitische Bilder aufgetaucht
Auf der Documenta sind neue Bilder mit judenfeindlichen Inhalten aufgetaucht, nachdem die Weltkunstschau bereits nach der Eröffnung von einem Antisemitismus-Skandal erschüttert worden war. Das berichteten am Mittwoch zunächst die „Jüdische Allgemeine” und „Bild“. Es handelt sich um Broschüren mit Karikaturen, die das algerische Frauen-Kollektiv „Archives des Luttes des Femmes en Algerie“ (Archive des Kampfes der Frauen in Algerien) im Fridericianum, einem der Hauptausstellungsorte der Documenta, im Rahmen einer größeren Archivpräsentation ausgelegt hat.
Ein Besucher meldete die Inhalte an die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen). RIAS Hessen wiederum hat Fotos der Broschüren veröffentlicht und die Inhalte einer gründlichen Prüfung unterzogen. „Wir haben ausführlich recherchiert, um die Bilder in einen Kontext zu stellen“, sagt Susanne Urban, Leiterin der RIAS Hessen, dem Tagesspiegel.
Die Interpretation der Bilder, die Aufklärung darüber sieht RIAS als seine Aufgabe an, nicht jedoch politisch bei der Documenta-Leitung oder dem Kuratorium zu intervenieren.
Auf den drei Bildausschnitten, die veröffentlicht wurden, sieht man unter anderem eine Frau, die einem behelmten und mit einem Davidsstern gekennzeichneten Soldaten ein Knie in den Unterleib rammt. Im Hintergrund sieht man vier Füße, die äußeren mit arabischen Schriftzeichen bemalt, die inneren mit Davidstern. Die Szene soll eine Vergewaltigung darstellen. Ein Kind steht in der Ecke.
Auf einem anderen Bild zieht ein jüdischer Soldat mit Gewehr ein Kind am Ohr, während im Hintergrund Hände aus einer Grube herausragen. Es wird insinuiert, dass jüdische Soldaten Kinder umbringen oder mit dem Tod bedrohen. Diese Bilder sind laut RIAS Hessen auch im Kontext alter antisemitischer Stereotype zu sehen.
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Laut einem Bericht der „Jüdischen Allgemeinen“ handelt es sich um eine 34 Jahre alte faksimilierte Broschüre, die das algerische Kollektiv „Presence des Femmes“ 1988 in einem Sonderheft zu Palästina herausbrachte. „Die betreffenden Zeichnungen, so RIAS Hessen, zeigten das Land Palästina, versehen mit Einordnungen, die dem Staat Israel seine Legitimität absprechen. Es seien darin Auszüge aus dem Heft “Ghassan Kanafanis Kinder” enthalten. Ghassan Kanafani war Autor und Sprecher der terroristischen „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PLPF). Er starb 1972 bei einem Anschlag im Libanon. Die Geschichten entstanden laut RIAS zwischen 1962 und 1969, heißt es in der “Jüdischen Allgemeinen”.
Laut Susanne Urban wurde die Broschüre zunächst aus der Ausstellung entfernt, lag dann aber einige Tage später wieder an ihrem Ort.
Die Documenta will die Werke der Ausstellung nicht umfassend prüfen
Inzwischen bestätigte die Documenta auf Anfrage der Zeitung “Die Welt”, dass die Bilder zwischenzeitlich einer Prüfung unterzogen worden seien: Es gebe “zwar eine klare Bezugnahme auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, aber keine Bebilderung von Juden ‘als solchen'”, sagte eine Sprecherin den Angaben zufolge. In einer Stellungnahme heißt es: „Der Davidstern ist zwar ein eindeutig jüdisches Symbol, aber kennzeichnet hier als Bestandteil der Staatsflagge das israelische Militär.“ Das Werk sei als strafrechtlich nicht relevant eingestuft worden. Es soll nun aber nach “erneuter Betrachtung” eine “Kontextualisierung in der Ausstellung” vorgenommen werden.
Die Documenta ließ außerdem wissen, dass eine umfassende Prüfung der in Kassel gezeigten Werke nicht geplant sei. “Ein Screening der Ausstellung nach etwaigen antisemitischen Motiven wird es nicht geben.”
Legitimität des Staates Israels wird in Frage gestellt
Nach der Einordnung von RIAS Hessen sind die Bilder klar antisemitisch, sie verlagerten „das Bild von „den Juden“ auf den „jüdischen Staat“. „Auffallend sei, dass die als israelische Soldaten gekennzeichneten Personen vor allem kleinere Jungen und Jugendliche bedrohen. Das Bild des „Kindermörders Israel“ klinge hier sehr deutlich an“, zitiert die “Jüdische Allgemeine” RIAS.
„Es ist wichtig zu erkennen, dass die Bilder eine Wirkung bei den Betrachtern haben, unsere Aufgabe ist es, Bilder des Antisemitismus zu erklären, sie zu dekonstruieren und aufzuzeigen, welche Macht von ihnen ausgeht.“ RIAS möchte Bilder wie diese in seiner Bildungsarbeit einsetzen.
Susanne Urban bedauert, dass die Bedenken der jüdischen Gemeinschaften von Seiten der Documenta nicht ernst genommen worden sind. Unter anderem hatte der Zentralrat der Juden in Deutschland früh gewarnt. Eine Überprüfung der Inhalte der Documenta durch Fachleute wurde zwar vom Documenta-Aufsichtsrat erst kürzlich erneut beschlossen, hat bis jetzt aber offenbar nicht begonnen.
Archivsammlung zur algerischen Freiheitsbewegung
Laut Documenta-Handbuch zeigt „Archives des Luttes des Femmes en Algerie“ eine „Chronik der Frauenbewegung und der Frauenmobilisierung in Algerien, einschließlich Interviews mit Aktivistinnen“. Gegründet wurde die Frauen-Initiative 2019 von der Anthropologin und Forscherin Awl Haouati mit dem Ziel, schriftliches und fotografisches Material von Aktivistinnen und Frauenvereinigungen für die Diaspora zugänglich zu machen. Im Fridericianum sind, laut Documenta-Handbuch, 60 Reproduktionen unterschiedlichen Materials zur Frauenrechtsbewegung in Algerien ausgestellt. Susanne Urban sagt: „Das zeigt, dass auch gut gemeinte, freiheitliche Bewegungen nicht frei sind von Antisemitismus“.
Neue Proteste aus der Politik und der Zivilgesellschaft
Das große Unbehagen bei der Documenta entsteht dadurch, dass einem Bilder mit antisemitischem Inhalt quasi untergejubelt werden. Ohne Kommentar, ohne Warnung, jedem bleibt es selbst überlassen, zu interpretieren, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Das überfordert. Nach der Abberufung von Generaldirektorin Sabine Schormann ist längst nicht alles in Ordnung, auch unter Interims-Geschäftsführer Alexander Farenholtz geht es mit der Aufarbeitung des Skandals offenbar nicht voran. Dieser hatte kürzlich betont, unter keinen Umständen dürfe “der Eindruck entstehen, dass durch die fachwissenschaftliche Begleitung eine Kontrollinstanz eingeführt wird“.
Aus der Politik werden jetzt neue Proteste laut. Der kulturpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Helge Lindh, sagte ebenfalls in der “Welt”, die Bilder erinnerten “unweigerlich an typische NS-Karikaturen”. Lindh fordert “eine umfassende Sichtung und Begutachtung des Gesamtbestands an Kunstwerken auf antisemitische Motive durch externe deutsche und internationale Experten”.
Der Antisemitismus werde von der Documenta-Leitung “nicht ernst genommen, vielleicht sogar toleriert”, kritisierte die in der Grünen-Bundestagsfraktion für Antisemitismusbekämpfung zuständige Abgeordnete Marlene Schönberger.
Aus der Union hieß es seitens der stellvertrenden Fraktions-Vorsitzenden Dorothee Bär: “Menschenverachtenden Antisemitismus unter dem Etikett der Kunstfreiheit verstecken zu wollen, ist nicht hinnehmbar”. Auch sie hält eine Überprüfung für zwingend. Elio Adler von der Werteinitiative bezeichnete die ausbleibende Prüfung als “Schlag ins Gesicht”. Der Antisemitismus werde von der Documenta toleriert, “offensichtlich im vollen Bewusstsein seiner Existenz”. (mit AFP, dpa)