Die Nacht der tausend Augen

Unter Blinden ist der Einäugige König. Aber welche Rolle hat ein Zyklop in einer Nacht der tausend Augen? Mit nichts als einer Darbuka sitzt der französisch-libanesische Perkussionist Wassim Halal inmitten eines achtköpfigen Gamelan-Orchesters. Ein einsamer Trommler, der das Fell seines im Schoß liegenden Instruments mit trockenem Dum und Tak traktiert, während ringsherum zwei riesige, im Quintabstand gestimmte Buckelgongs das ganze Kesselhaus erzittern lassen und die Metallophonreihen der Reyongs unter Hämmern und Schlägeln zu sirren und schwirren beginnen.

Ein in rhythmisch genau festgelegten Zyklen ablaufendes, von der Darbuka aus gesteuertes und von den Handcymbals der balinesischen Ceng Ceng akzentuiertes Festgeläute, das mit seinen unreinen Klängen und Schwebungen blitzend und gleißend die klingenden Augen aufreißt.

„Polyphème“ heißt Halals Projekt, mit dessen Deutschlandpremiere er am Dienstag das 14. deutsch-französische Jazzdor-Festival in Berlin eröffnete, das sich nach einer zweijährigen Coronapause Dresden als zusätzlichen Spielort gesucht hat. Polyphem wie jener kannibalisch veranlagte, einäugige Riese, dem der griechischen Mythologie zufolge Odysseus das Augenlicht raubte, womit sich dieser die bittere Rache von Polyphems Vater, dem Meeresgott Poseidon, zuzog. Polyphem auch wie Polyrhythmik – oder wie Morphem, die kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache, die sich hier aus den unverrückbaren Melodieskalen und additiv zusammengefügten Schlägen bildet.

Aber was soll hier noch der Begriff Jazz? Und ist nicht auch das Wort von der Weltmusik überholt? Vom Jazz übernimmt Wassim Halal ein Ethos der Improvisation, das sich wie in der traditionellen Gamelan-Musik allerdings nur auf die inneren, nicht auf die äußeren Abläufe bezieht: Die Variation sprengt niemals die Form. Und die Zusammenführung von arabischen und indonesischen Traditionen (die Instrumente stellte die Berliner Botschaft zur Verfügung) schleift hier weder auf der einen noch der anderen Seite die Konturen ab, bis diese Musik auf billige Weise konsumierbar wird. Sie sucht nach einem Amalgam, das sich weder der Folklore noch der Kunstmusik zuschlagen lässt.

Kooperation und Kollision

Halals Tripel-CD „Le cri du cyclope“ (Buda Musique), deren Mittelteil die Zusammenarbeit mit Gamelan Puspawarna bildet, ist jedenfalls gegen jeden Verdacht kultureller Aneignung erhaben, wie er noch gegenüber Claude Debussy erhoben wurde: Er fasste seine Begeisterung für die javanische Musik, die er bei der Pariser Weltausstellungen 1889 und 1900 kennenlernte, in den „Estampes“ für Klavier als einer der ersten in Töne. Auch vom Kollisionscharakter, wie er zum Berliner Jazzfestival 1968 noch Don Cherrys „Eternal Rhythm“ prägte, hat sich „Polyphème“ gelöst. So bleibt diese Musik in ihrer ganzen betäubenden Sinnlichkeit lebendig, und es ist Philippe Ochem, dem künstlerischen Leiter von Jazzdor, zu danken, dass er für diese Entwicklungen ein aufmerksames Ohr hat.

Idiomatisch weitaus mehr im Jazz zu Hause ist die andere Formation des Eröffnungsabends, die man, wie im Programm angekündigt, in das Trio des Tenorsaxofonisten Sylvain Cathala mit der palästinensischen Sängerin und Oud-Spielerin Kamilya Jubran zerlegen kann, aber auch in das erweiterte Duo, das sie seit Jahren mit der Kontrabassistin Sarah Murcia bildet. Immer wieder vereinen sich die drei in zartgliedrig weitläufigen, orientalisch anmutenden Unisono-Themen, die Schlagzeuger Christoph Lavergne mit kantig donnernden Schlägen auflädt und durch solistische Felder führt.

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Kein Stück, das nicht ein Lied voller Schmerz wäre, wenn man Jubrans arabische Texte über ihre pure Ausdrucksqualität hinaus verstehen könnte. In den spärlichen Zwischenansagen gibt Cathala darauf keine Hinweise. So bleibt das Ganze ein weitgehend instrumentales Erlebnis, aus dem insbesondere Sarah Murcia herausragt: Mit welcher hochbeweglichen, stimmähnlichen Intonationsgabe sie auf ihrem Bass in Windeseile sämtliche Register durchquert, darauf wäre ihr verstorbener Lehrer, der große Jean-François Jenny-Clark, stolz gewesen.

Die nächsten Tage bringen unter anderem noch zahlreiche Begegnungen zwischen deutschen und französischen Musiker:innen. Die Öffnung der nationalen Szenen schreitet zwar voran, das Jazzdor-Festival übernimmt dabei aber die Aufgabe eines Katalysators: Demnächst reisen die Deutschen auch wieder nach Straßburg.Gregor Dotzauer

Jazzdor, täglich bis Freitag, 10.6., Details unter www.jazzdor.com, Aufzeichnungen demnächst bei Deutschlandfunk Kultur