Auch Dämonen haben Gefühle

Die Kamera stürzt sich in die knallbunte Realität von U, einem Metaversum mit fünf Milliarden Avataren, die auf den biometrischen Daten ihrer Nutzer basieren. Eine Stimme erklärt aus dem Off, wie man per App Teil von U werden kann. Die Avatare schweben wie Konfetti durch die virtuelle Architektur, quaderförmige Hochhäuser bilden nahezu schwerelos eine urbane Landschaft. Zwischen den Häuserschluchten gleitet ein Wal dahin, auf dessen Rücken sich Lautsprecher türmen. Davor steht eine zierliche Gestalt in einem roten Kleid, mit langen rosa Haaren und einer engelsgleichen Stimme: Belle, mit der sich die 17-jährige Suzu in die virtuelle Realität von U flüchtet.

„In der Wirklichkeit kannst du nicht neu anfangen, in U schon“, verheißt die Werbestimme in Mamoru Hosodas Animationsfilm „Belle“. Suzu lebt seit dem Tod ihrer Mutter mit dem Vater und ihrem Hund am Rande einer kleinen Stadt. Alle seine Kontaktversuche prallen an ihr ab, auch in der Schule zieht sie sich immer mehr zurück. Suzus Liebe zur Musik ist mit ihrer Mutter gestorben, ihr Körper versagt ihr alle früheren Freuden. Die schöne, melancholische Belle wird zu ihrer Rettung. Die einzige, die Suzus Geheimnis kennt, ist ihre Freundin Hiro.

Und zu Suzus Überraschung avanciert Belle schnell zum Popstar in U, bald spielt sie Riesenkonzerte. Bei einer ihrer Shows wird sie von einem Dämon angegriffen, was die Ordnungshüter der virtuellen Welt gerade noch verhindern können. Sie drohen dem Eindringling mit der Enthüllung seiner Identität, bevor dieser entkommt. Die Nutzer von U beginnen zu spekulieren, wer der Dämon ist, doch Belle fühlt sich zu ihrem Stalker hingezogen.

In der Gestaltung seiner virtuellen Welt schöpft Hosoda alle Freiheiten des Animationsfilms aus. „Belle“ wechselt zunächst zwischen schmuckloser Realität und überbordener Virtualität, bis die Welten sich immer stärker zu durchdringen beginnen. Suzus Neuerfindung als Belle gibt ihr die Freiheit, zu sich selbst zurückzufinden. Virtuos greift Hosoda in der Beziehung zwischen Belle und dem Dämon den Disney-Klassiker „Die Schöne und das Biest“ von 1991 auf. Zugleich dient ihm die Rückkoppelung der Avatare an die biometrischen Daten der Urheber:innen, um auch die Erlebnisse in U in die Realität hinüberschwappen zu lassen.

Boom von unabhängigen Animationsstudios

Hosoda gehört mit Makoto Shinkai („Weathering With You“) und Masaaki Yuasa („Inu-Oh“, der vergangenes Jahr in Venedig lief) zu einer jüngeren Generation von Animationsfilmern, die die über Jahrzehnte prägende Trias der Studios Ghibli, Toei und Madhouse verlassen haben. Hosoda begann 1991 bei Toei, wechselte zu Ghibli, überwarf sich mit dem Studio während der Produktion von „Das wandelnde Schloss“ (2004) und gründete schließlich seine eigene Produktionsfirma Chizu.

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Auch andere Regisseure aus Hosodas Generation veränderten durch die Gründung eigener Studios die lange Zeit klar strukturierte Produktionslandschaft für japanische Animes. Heutzutage werden mehr und mehr Filme von unabhängigen Studios produziert, die anschließend von großen Verleihfirmen in die Kinos gebracht werden.

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Für Hosodas Stil ist besonders prägend, dass er Landschaften jenseits der Metropolen aufgreift. So finden sich seine realen Vorbilder – etwa für jene Brücke, die Suzu auf ihrem Heimweg überquert – vor allem in der Präfektur Kochi auf der Insel Shikoku. Die Ästhetik von „Belle“ wechselt zwischen der ländlichen Realität und den urbanen Landschaften der virtuellen Welt.

(In 20 Berliner Kinos, auch OmU)

Doch anders als etwa die kunstvolle Fantastik in Florence Miailhes „Die Odyssee“ folgt „Belle“ der Logik des Blockbusterkinos. Hosoda zitiert nicht nur „Die Schöne und das Biest“, das Foyer von U erinnert auch an Einstellungen aus Spielbergs „Ready Player One“. Die Songs wurden von J-Popbands wie Millennium Parade eingespielt, die Kompositionen stammen aus der Feder von Ludvig Forssell, der zuvor viel Musik für Games geschrieben hat. Am Tag der Premiere von „Belle“ auf dem Cannes Festival 2021 wurde das Video zum Titelsong „U“ veröffentlicht. Am Tag darauf lief der Film in über 400 japanischen Kinos an. In Hosodas Heimat war „Belle“ ein Medienereignis.

Hosodas Kunst besteht darin, diese Elemente zu einem spielerisch leichten Film zu verweben, der in seiner überbordenden Form ein vielschichtiges Drama über die jugendliche Suche nach sich selbst erzählt – und von dem Mut, sich zu offenbaren. Damit gehört „Belle” locker in eine Ahnenreihe mit einem so herausragenden Animationsfilm wie Isao Takahatas modernem Klassiker „Die Legende der Prinzessin Kaguya“.