Das ist mein Land
Es ist einiges los im Atelier von Sally Gabori. Ihre Managerin huscht mehrmals durch den Raum, einmal sogar mit ihrem Kleinkind, Assistent:innen bringen Eimer voll frischer Farben. Die Künstlerin interessiert das wenig: Das Video, in dem sie überwiegend in Rückenansicht zu sehen ist, zeigt Gabori hochkonzentriert vor einer großen Leinwand sitzend. Gleichmäßig lenkt sie den Pinsel aus dem Schwung ihres Handgelenks nach unten und oben – und es wirkt, als habe sie das immer schon gemacht.
Dabei war Gabori, als sie 2005 mit dem Malen begann, bereits 81 Jahre alt. Zehn Jahre blieben ihr, um ein ebenso großes wie grandioses Werk zu schaffen, das nun in der Fondation Cartier in Paris vorgestellt wird. In ihrer Heimat wurde sie längst geadelt: In Australien zählt Gabori, eigentlich Mirdidingkingathi Juwarnda Sally Gabory, zu den Stars der abstrakten zeitgenössischen Kunst, ihre Bilder hängen in Institutionen wie der Nationalgalerie in Melbourne, der Gallery of Australia oder im Museum für moderne Kunst in Brisbane. Privatsammler besitzen ihre Werke und ebenso die Fondation Cartier. Dennoch führt die Stiftung im 14. Pariser Arrondissement mit dieser ersten Soloschau außerhalb Australiens den meisten Europäer:innen eine künstlerische Position vor, die ihnen völlig unbekannt ist.
Niemand hat sie an die zeitgenössische Kunst herangeführt
Man schaut halt nicht so oft von hier nach Australien und verbindet vor allem mit der Malerei der Aborigines ein festes Vokabular aus Punkten und figurativer Darstellung. Gabori hingegen hat sich die Sprache der Abstraktion angeeignet – ohne Vorkenntnisse, sondern im Gegenteil mit einer biografischen Geschichte, die auf alles andere als eine späte Hinwendung zur Kunst deutet. Wie ihre Eltern kam sie auf Bentinck Island zur Welt, einer kleinen Insel im Golf von Carpentaria, die Jahrtausende lang vom indigenen Volk der Kaiadilt bewohnt wurde. Ab 1914 versuchten britische Missionare von einer benachbarten Insel aus, die Bevölkerung zu bekehren. Die schweren Zerstörungen durch einen Zyklon auf Bentinck Island erlaubte es ihnen 1948 schließlich, alle Bewohner zu evakuieren: Familien wurden in Camps gesteckt und voneinander getrennt, die Kinder sollten „zivilisiert“ werden, mussten ihre Sprache verleugnen. Junge Mädchen wurden als Mägde beschäftigt.
Sally hatte mehr Glück. Sie war bereits verheiratet, bekam über die Jahre elf Kinder, von denen drei früh starben. Sie arbeitete als Fischerin und träumte wie ihre Leidensgenoss:innen ein Leben lang von der Rückkehr aus dem Exil. Bentnick Island, das seit damals nicht mehr bewohnt wird, wurde in ihrer Erinnerung zu einer Phantasmagorie: schöner, größer und farbenprächtiger, als es in Wahrheit wohl jemals gewesen ist.
Blicke aus der Vogelperspektive
Wer sich Gaboris Bilder anschaut, bekommt eine Idee von ihrer Sicht auf die Insel – und das im Wortsinn. Die Großformate zeigen Bentinck Island mit seinen Schluchten, Seen und Buchten immer wieder aus der Vogelperspektive.
Dabei scheint es sich auf den ersten Blick weniger um ein Mapping als um rein abstrakte Motive zu handeln. Der dänische Maler Per Kirkeby oder die Farbfeldmalerei eines Morris Louis aus den 1950er-Jahren kommen einem in den Sinn. Bei Gabori schieben sich blaue, rote, türkise und weiße Farbzonen ineinander. Weiches Rosa wird von tiefschwarzen Flächen umrandet, während pinke, weiße und gelbe Bögen in einem Bild an einen zur Seite gesunkenen Regenbogen denken lassen.
Der Titel des drei Meter langen Bildes „Thundi – Big River“ (2010) rückt diesen Eindruck dann wieder gerade: Es handelt sich um einen sanft mäandernden Fluss. Seine schwarze Begrenzung markieren jene Fischreusen und -netze, die die Kaiadilt entlang des Wassers auslegten. Thundi – der Ort im Norden der Insel, an dem Gaboris Vater geboren wurde – taucht auch in einem anderen Gemälde auf; diesmal in leuchtendem Blau, das sich wie Wasser während Ebbe und Flut seinen Weg auf der Leinwand sucht. „This is my land, this is my sea, this is who I am“, konstatierte die Künstlerin. Und was bis zu ihrem Tod 2015 auf Mornington Island ihr Inneres an Eindrücken erleuchtete, lässt sich den Werken unmittelbar ablesen.
Manchmal entstanden mehrere Bilder pro Tag
Um die 30 Gemälde aus dem überbordenden Nachlass hängen in Paris. Insgesamt umfasst er an die 2000 Bilder – als Resultat eines Besuchs des Mornigton Art Centre, das Gabori als 80-Jährige erstmals betrat. Die Zeit danach wirkt wie ein Dammbruch: Manchmal entstehen mehrere Bilder an einem Tag – obwohl viele von ihnen riesig sind. Man kann nur staunen über die ästhetische Sicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der Gabori ihre malerischen Mittel einsetzt. Obwohl sie sich thematisch wie stilistisch das gesamte Jahrzehnt treu bleibt, ermüden einen die immer neuen Ansichten derselben Insel mit ihren dramatischen Wetterumschlägen und wechselnden Lichtverhältnissen keinen Moment (Fondation Cartier, 261 Boulevard Raspail, Paris. Bis 6. November, Di – So von 11 bis 18 Uhr. Katalog: 58 Euro).
Sie lud Frauen ein, kollaborative Bilder zu schaffen
Die Fondation Cartier schlägt drei Kapitel ihres Werkes auf und vergisst auch nicht die gemeinsame Arbeit mit anderen Kaiadilt. 2007 besuchte Sally Gabori erstmals nach Jahrzehnten ihre Heimat, anschließend lud sie sechs Frauen, darunter ihre Schwestern und Nichten, zu kollaborativen Bildern ein, die bis zu sechs Metern lang sind. Auch sie zeigen Bentinck Island von oben, weisen aber gleichzeitig die typischen „dots“ mit ihren pastosen, verschiedenfarbigen Umrandungen auf. Sie verweben die traditionelle Sprache der Aborigines mit Gaboris autonomer Malerei. Die übrigen Räume der Stiftung widmen sich neben Thundi dem mythologischen Ort Dibirdibi und der Gegend um Nyinyilki, wo 1980 die Rechte der indigenen Überlebenden als Eigentümer des Landes anerkannt und ein Außenposten errichtet wurde, der es den Kaiadilt möglich macht, die Insel zu besuchen.
„Nyinyilki – Main Baise“ heißt ein monumentales Querformat von 2009. Es feiert die Leuchtkraft von Rot und Gelb, streut Weiß mit hinein, das für die charakteristischen Wolkenformationen oder die vom Salz des Meeres getönten Landstriche steht, fügt die schwarzen Linien der Netze hinzu – und verwandelt sich im nächsten Moment in ein abstraktes Konstrukt. Bentinck Island rückt in weite Ferne, an seine Stelle tritt eine farbsprühende Reflexion über den Ort, aus dem Gabori ihre Lebensenergie geschöpft hat.