Erst Lachen, dann nachdenken
Ohne Pandemie wären unsere elf jungen Journalistinnen und Journalisten der Paralympics Zeitung jetzt eigentlich in Tokio. Von dieser Reise sahen wir zu diesen Spielen ab und sitzen nun in Berlin. Aber sollte es in dieser Stadt nicht auch so etwas wie Japan-Flair geben? Wir haben uns auf die Suche gemacht. Hier unsere Serie „Inside out – Japan in Berlin“. Teil fünf: Karaokebar an der Warschauer Straße.
„Sei bereit“ grummele ich in meinen tiefsten Basstönen. Direkt im Anschluss ertönt eine weitere Stimme um mutmaßliche zwei Oktaven höher: „Totale Finsternis, ein Meer von Gefühl und kein Land“. Es ist Elena, die sich neben mir auf der Minibühne platziert hat und sich das Mikrofon dicht vor den Mund-Nasen-Schutz hält. Konzentriert folgen wir den vor uns ablaufenden Lyrics. „Sich verlier’n heißt sich befrei’n. Du wirst…“ Trotz voller Konzentration, die Töne zu treffen, darf auch der Spaß nicht fehlen. Wir trällern uns durch die Jahrzehnte von Hip Hop über Rap bis hin zu Musicalklassikern. Das Einzige, was fehlt: japanische Lieder. Diese hat die Karaokebar leider nicht parat. Immerhin: ich notiere ein Stück auf der „Wunschliste“.
Japan ist die Wiege des Karaokes: Daisuke Inoue gilt als dessen Erfinder. Der aus Osaka stammende Handelsunternehmer arbeitete seit 1970 als Schlagzeuger und Bandmanager. In dieser Funktion beglückte er regelmäßig hochkarätige Angestellte und Chefs, die ihre Geschäftsabschlüsse nach japanischer Art in Bars feierten und dabei gerne zu der Musik sangen. Doch die Entwicklung hin zu einer Karaokemaschine, wie wir sie an diesem Abend verwenden, kam erst durch die Reiselust in Fahrt: Geschäftsleute fragten nach Bändern und Kassettenaufnahmen, um sich auch unterwegs zu den Musiksoundtracks auslassen zu können.
Ungeziefer in Karoakemaschinen
Unser Karaokegerät ist etwas luxuriöser als lediglich ein Verstärker und ein Mikrofon ergänzt um Textbücher, wie es bei den ersten Basteleien von Inoue der Fall war. In unseren beiden Karaokekabinen befinden sich jeweils zwei Bildschirme. Zu wechselnden Rhythmen fließen die Lyrics hinfort und wechseln ihre Farbe von schwarz zu blau, sobald der Gesang einsetzen soll. In diesem Moment erklingt die Melodie von Haus am See von Peter Fox.
Reich wurde Inoue mit seiner Erfindung nicht – er hatte wohl kaum davon ausgehen können, dass im Jahr 2021 unzählige Karaoke-Bars in Japan und aller Welt existieren. Entsprechend hatte er am Patentgeld gespart und seine Eigenentwicklung nicht schützen lassen. Sein Erfindergeist trat später noch einmal zu Tage: Inoue entwickelte ein Anti-Insekten-Mittel zur Abwehr von Ungeziefer, das unangenehm gerne in die Karaokemaschinen krabbelte und sich in den unpässlichsten Momenten den Weg zur Freiheit suchte. Mit Giftverstreuenden Kassetten, die in Benutzungspausen eingelegt wurden, verdiente er schließlich sein Geld.
Neben dem Dasein als Ungezieferbekämpfer, kam der Karaoke-Erfinder zu einigem Ruhm. Nicht von ungefähr listete ihn die Times unter den 100 einflussreichsten Asiaten. 2004 erhielt er den Ig-Friedensnobelpreis. Auch wenn dieser unter anderem als Anti-Nobelpreis berüchtigt ist, ist er nicht zu unterschätzen. Mit dieser satirischen Auszeichnung sollen Ideen geehrt werden, die Menschen zuerst zum Lachen, dann zum Nachdenken bringen.
Egal ob Flugzeug, Bahn oder Taxi
Dass Inoues Erfindung zum Lachen führt, können wir am Donnerstagabend bestätigen. Spätestens als wir zu den obligatorischen Rap-Songs übergehen, wird es lustig. Wir versuchen uns am schnellen Ablesen der Texte – und wenn wir scheitern, dann nicht mit Scham, sondern als Beitrag zur allgemeinen Stimmungshebung. Tatsächlich setzt das Denken kurz nach dem Verklingen des letzten Tons ein: Bei all den bedeutungsvollen Lyrics – was hat es eigentlich mit dem Wort Karaoke auf sich? „Kara“ steht in der Übersetzung für „mit leeren Händen“. „Okee“ findet seine Anlehnung an das japanische Wort für Orchester: オーケストラ – Ōkesutora.
Mit leeren Händen verlassen auch wir die Karaokebar, denn für eine Gage haben unsere Gesangskünste nicht ausgereicht. Trotzdem sind wir überzeugt von dem Konzept des Singens zu vorgegebenen Tracks und können uns bereits zum zweiten Mal bei Geschäftsreisen bedanken. Sie führten nicht nur zur ursprünglichen Entstehung dieser Bespaßungsmöglichkeit, sondern auch dazu, dass inzwischen Karaoke-Bars in jeder deutschen Stadt betrieben werden. Aus dem Ausland inspiriert wurden die Geräte hierzulande immer weiterverbreitet und die Einrichtungen professionalisiert. Inzwischen gibt es sie nicht nur in verschiedenen Ländern, sondern auch auf den Wegen zwischen ihnen. Egal ob Flugzeug, Bahn oder Taxi: Karaokemaschinen werden überall eingebaut.
Nach diesem amüsanten Abend sind wir gespannt darauf, an welchem Ort wir das nächste Mal unsere musikalischen Talente zum Besten geben dürfen. Schade nur, dass Karaokesingen nicht paralympisch ist – aber was nicht ist, kann noch werden. Und bis dahin begnügen wir uns mit dem Verfolgen der World Choir Games, auch bekannt als Chorolympiade. In diesem Jahr am 30. Oktober.
Teil eins: Kalligrafiekurs am Japanisch-Deutschen Zentrum in Dahlem; Teil zwei: Katzencafé in Neukölln; Teil drei: Zen-Meditation im Akazienzendo; Teil vier: die Mori-Ôgai-Gedenkstätte. Alle Texte sind Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Eine Übersicht finden Sie in unserer Digitalen Serie.