Pleiten, Pech und Pfannen
Genauso hatte sich Walter Felsenstein das vorgestellt: Als der österreichische Regisseur von fast 75 Jahren die Komische Oper eröffnete, im sowjetisch besetzte Sektor Berlins, im halb ruinösen Gebäude des ehemaligen Metropoltheaters, da zielt er auf nicht weniger ab als auf eine Revolution des Genres: Musiktheater wollte er machen, Aufführungen zeigen, in denen Gesang und Schauspiel miteinander verschmelzen – und so die altbekannten Werke zu neuem Leben erwecken.
Wo bisher in prächtigen Kulissen verkleidete Figuren mit den Armen gerudert hatten, sollten nun echte Menschen agieren. Menschen, die das Publikum als Seinesgleichen wiedererkennen kann. So wie das jetzt bei Giuseppe Verdis „Falstaff“ passiert, in Barrie Koskys Inszenierung, die im vergangenen Sommer in Aix-en-Provence Premiere hatte und die der Intendant der Komischen Oper jetzt an sein Berliner Haus geholt hat.
Ein Dreivierteljahrhundert nach Felsensteins Pioniertat gilt das Konzept des „Regietheaters“ bis in die entlegenste Provinz als Maßstab allen inszenatorischen Handelns. Aber keiner beherrscht die Kunst des Partitur-Verlebendigens derzeit virtuoser als Barrie Kosky, gerade im Bereich der musikalischen Komödie. Weil er nicht nur umwerfend fantasievoll ist, sondern auch ein echter Zuhörer, der seine Inszenierungen aus der Musik heraus entwickelt und nicht aus irgendeiner „Idee“, für die er sich das Geschehen zurechtbiegt. Weshalb der 1967 geborene Australier auch der ideale Nach-Nach- Nach-Nach-Nachfolger Felsensteins war, zehn glorreiche Jahre lang.
Zum Ende der Spielzeit wird er seinen Chefposten aufgeben, ohne aber ganz zu gehen. Er bleibt der Komischen Oper als Berater verbunden und wird weiterhin zwei Produktionen pro Jahr inszenieren. Dass er sich jetzt mit Verdis Alterswerk verabschiedet, bevor er am 10. Juni zum Grand Finale „Barrie Kosky’s all-singing, all-dancin jiddish Revue“ herausbringt, wirkt da wie von langer Hand geplant. Denn der „Falstaff“, dieses Meisterwerk der fein ziselierten Opera-Buffo-Komik, gelingt am Besten mit einem eingeschworenen Ensemble.
Kosky hat ein brillantes Ensemble geschaffen
Und das hat Kosky in Berlin konsequent aufgebaut. Eine Künstler:innenfamilie aus Festangestellten und regelmäßig eingeladenen Freiberuflern ist da zusammengewachsen, einschließlich der hier traditionell hochgeschätzten Chorsolisten, eine tolle Musiktheatertruppe die einfach alles spielen kann, quer durch die Jahrhunderte und Stile, Ernstes wie Operettiges, auf höchstem Niveau.
Kultursenator Klaus Lederer macht am Samstag, nach dem langen „Falstaff“- Schlussapplaus, Carolina Gumos zur „Berliner Kammersängerin“ und Günter Papendell zum männlichen Pendant. Kosky hat die beiden für den Ehrentitel vorgeschlagen, es ist eine Dankesgeste am Ende seiner Amtszeit, in der er das gesamte Team einschließt, bevor er dem ukrainischen Tenor Oleksiy Palchykov die Bühne überlässt, für ein flammendes Freiheits-Plädoyer und ein Volkslied aus seiner Heimat.
Hinreißend hat der Sänger zuvor als schockverliebter Fenton seine Nannetta angeschmachtet, nicht minder bezaubernd verkörpert von Alma Sadé: Ein Gast von außerhalb und eine Sopranistin aus dem Ensemble werden zum Liebespaar, das turtelnd über die Bühne wuselt, hundertprozentig glaubwürdig, und dabei genau jene Leichtigkeit behält, die die musikalische Seite der Partitur unbedingt braucht.
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Wahnwitzig, wie Scott Hendricks als Titelheld in der Eröffnungsszene mit Töpfen und Pfannen hantiert – als Koch einer Trattoria, zu der Shakespeares sinnenfreudiger Sir hier wird – wie er würzt, abschmeckt und flambiert, das Fleischerbeil schwingt und mehrere Flaschen Rotwein wegschluckt, während er zugleich ungeheure Textmengen bewältigt, nonchalant, lässig, in rasantestem Parlando- Italienisch.
Darsteller, die zur Enthemmung bereit sind
Dass der amerikanische Bariton außerdem keine Angst davor hat, diese vokale Tour de Force lediglich mit einer Küchenschürze bekleidet zu performen, macht ihn zu einem idealen Kosky-Verbündeten. Dessen Zuneigung gehört schon immer den von allen gesellschaftlichen Fesseln freien Charakteren. Um ihnen auf der Bühne Glaubwürdigkeit verleihen zu können, aber braucht er Darsteller, die zur Enthemmung bereit sind. Wie Jens Larsen, der den Diener Pistola spielt, als wär’s der Kjeld aus der Olsen-Bande, wie Agnes Zwierko, die nur so vor Selbstironie funkelt, wenn sie im Dame-Edna-Outfit die Mrs. Quickly zur „komischen Alten“ stilisiert.
(Weitere Aufführungen am 7., 12., 22. und 28. Mai sowie im Juni und Juli)
Und eben wie Scott Hendricks, der Falstaff so zeigt, wie Kosky ihn empfindet. Als Genussmenschen, der Essen und Wein ebenso ehrlich liebt wie die Frauen – und der darum ebenso weit vom geilen Grabscher entfernt ist wie vom versoffenen Fettsack. Bei seinem amourösen Abenteuer lässt Ausstatterin Katrin Lea Tag Falstaff eine weiße Wuschellockenperücke à la Simon Rattle tragen und dazu einen schrillbunten Anzug, der aussieht, als habe ihn die für ihren extravaganten Modegeschmack berüchtigte Mezzosopranistin und Dirigentengattin Magdalena Kozena ausgesucht. Doch eigentlich – diese Erkenntnis setzt sich im Laufe des Abends durch – müsste er aussehen wie der Intendant höchstselbst.
In diesem Huch-das-bin-ja-ich-Szenario dürfen die Gegenspieler:innen jedenfalls – trotz ihrer Intrigen-Erfolge – nicht wirklich fies zu Falstaff werden. Was Günter Papendell als Ford, Ruzan Mantashyan als Alice, Karolina Gumos als Meg und Ivan Tursic als Dr. Cajus im Gegenzug die Gelegenheit gibt, alle Schönheiten der Partitur auszukosten: Dieses grandiose Motiv-Mosaik eines lebensweisen 79-Jährigen, das so raffiniert changiert zwischen dem Spaß am meisterhaft beherrschten Handwerk und melodischer Melancholie, inklusive Rossini-Reverenz und angedeuteter Selbstzitate. Dem scheidenden Generalmusikdirektor Ainars Rubikis gelingt dieses Kunststück nicht durchgängig. Oft wird es knallig im Orchestergraben, fetzt die Musik mehr, als dass sie funkelt. Andererseits: Wer es schafft, zweieinhalb Stunden lang so ein wild wirbelndes Boulevardtheater- Treiben zwischen Sänger:innen und Musiker:innen unfallfrei zu koordinieren, hat bereits eine Menge erreicht.