Traum und Trauma des Sowjetdaseins: Zum Tod des Künstlers Ilya Kabakov

Zu der Zeit, da die nächstgelegene S-Bahn-Station noch „Lehrter Stadtbahnhof“ hieß, gegen Ende der 1990er Jahre, fand im Hamburger Bahnhof die Ausstellung „Behandlung mit Erinnerungen“ statt, die Ilya Kabakov eingerichtet hatte. Ilya und seine Frau Emilia Kabakov galten bereits als die bedeutendsten Künstler, die die Sowjetunion seit dem Ende der Stalinzeit hervorgebracht hatte. Der Berliner Ausstellungstitel brachte auf den Punkt, was ihre künstlerische Arbeit ausmacht. Die Kabakovs arbeiteten mit der Erinnerung, die sie unablässig sowohl zutage förderten als auch selbst konstruierten. So bearbeiteten sie das gesellschaftliche Trauma der Sowjetunion und ihrer Bürger, mithin des Sowjetmenschen schlechthin.

Angst ist der Grund für das künstlerische Schaffen. Sie ist ein Mittel zur Freiheit.

Ilya Kabakov

Erdachte Existenz des „kleinen Mannes“

Im Hamburger Bahnhof war der Klinikflur samt Krankenzimmern einer sowjetischen Klinik eingebaut, wobei in jedem Zimmer eine unablässige Folge von Dias an die Wand gegenüber den Metallbetten projiziert wurde, die einem Familienalbum zu entstammen schienen und Begebenheiten aus dem Sowjetdasein abbildeten. Es waren private Momente, an die sich mindestens ein sowjetisch sozialisierter Betrachter als selbst erlebt oder doch so ähnlich erinnern konnte. Im Laufe seines inoffiziellen, im Verborgenen geführten Moskauer Künstlerdaseins hatte sich der gelernte – und höchst produktive – Kinderbuchzeichner Kabakov die Existenz des „kleinen Mannes“ erdacht, „der nie etwas wegwirft“.

Das war im Grunde er selbst. Keine Erinnerung ließ er entschwinden, sondern hielt sie in seinen und seiner Frau Installationen fest oder materialisierte sie überhaupt in raumgreifenden Vergegenwärtigungen sowjetischer Baulichkeiten. Die Kabakovs dechiffrierten das Sowjetsystem als eines der ewigen Wiederkehr, in dem die großen Ideen zu kleinster Alltagsschäbigkeit zerfallen sind, und um die die Menschen wie in einem absurden Theater kreisen.

Zeichnung zu „The Red Wagon“ von 1991.
Zeichnung zu „The Red Wagon“ von 1991.
© Ilya & Emilia Kabakov

Das absurdeste Theater war die „Komunalka“, die Gemeinschaftswohnung mit ihrem erzwungenen Miteinander ganzer Familien, dazu die unteren Instanzen der Parteibürokratie, die das Leben aller Bewohner zu regeln suchten. Diese Installation haben die Kabakovs unter anderem 1998 in Leipzig aufgebaut, unter dem Titel „Stimmen hinter der Tür“ und ergänzt um eine Buchveröffentlichung, die all’ die in ihrer Ernsthaftigkeit absurden Schriftdokumente enthält, wie etwa ein „Protokoll über ungehöriges Verhalten“. Die Gemeinschaftswohnung ist das, was Ilya Kabakov schon in frühen Jahren als „Gesellschaft in der Schachtel“ entzifferte und nach und nach in seinen geradezu manisch wirklichkeitsgetreuen Installationen bewusst machte.

Geweckte und enttäuschte Hoffnungen

Mit am bekanntesten wurde die Installation „Der Mann, der aus seiner Wohnung in den Kosmos flog“, die er ursprünglich in seiner Moskauer Dachwohnung installiert hatte, samt der von dem per Katapult entflogenen Bewohner scheinbar durchstoßenen Decke. Ein treffenderes Symbolbild für die zugleich geweckten und enttäuschten Hoffnungen des Sowjetbürgers ließ sich kaum denken. Kabakov besaß die heitere Melancholie dessen, der alle Illusionen durchschaut hat und ihr Vorhandensein gleichwohl als unabänderlich, wenn nicht lebensnotwendig begreift.

Geboren wurde Ilya Kabakov 1933 in Dnepropetrowsk in der Ukraine, heute wieder Dnipro, von jüdischen Eltern. Während des Krieges wurde er nach Usbekistan evakuiert, wo er bereits im Kindesalter in eine Kunstschule eintrat. In Moskau studierte er und graduierte als Illustrator. Erst allmählich begann er, neben den Zeichnungen für Kinderbücher eigenständig zu arbeiten, ohne jede Aussicht auf Veröffentlichung. Seine 1967 bezogene Dachwohnung wurde zu einem Treffpunkt der Moskauer Konzeptualisten. Mit aus der Sowjetunion geschmuggelten Zeichnungen wurde er in westlichen Museumskreisen bekannt. Als er im Zuge der Perestrojka ein Stipendium nach Österreich annehmen konnte, verließ er Russland für immer. 1988 traf er die bereits 1973 emigrierte Emilia, die wie er aus Dnipro stammte; sie heirateten 1992.

Die Installationen der Kabakovs trafen auf ein höchst aufnahmebereites Publikum im Westen, dem sie zumindest eine Ahnung von den Zuständen im Sowjetreich vermittelten, zugleich aber in ihrer künstlerischen Durchdringung weit darüber hinauswiesen. Nach einem daad-Stipendium in Berlin folgten Ausstellungen in großen Museen wie dem Centre Pompidou sowie auf der documenta. Gleich zweimal waren seine Arbeiten auf der Biennale von Venedig zu sehen, dazu Ehrungen wie der Goslarer Kaiserring.

Irritation, Fiktion, Realität

Bei der documenta von 1992 stellten sie hinter dem Fridericianum ein bewohnbares Toilettenhaus hin, mit Stuhl und Bett neben den Latrinen – ein Sinnbild der condition humaine. Längst widmeten sich die Kabakovs den „Totalen Installationen“, wie sie sie nannten, und mit denen sie die die Spannung zwischen Kunst und Leben vonseiten der Kunst her quasi aufhoben. Immer blieb für den Betrachter die Irritation, Fiktion und Realität nicht unterscheiden zu können. In einem Gespräch anlässlich ihrer Ausstellung im Berliner Museum für Architekturzeichnung 2019 erklärte Emilia Kabakov, die stets das Wort für beide führte: „Unsere Arbeit beruhte immer auf Fantasie und Vorstellungskraft. Ilya hat seine Imagination genutzt und alles frei erfunden.“ Aber auch darin durfte man die Finte erahnen.

Allein von Ilya Kabakov geschaffen wurden die zahlreichen Gemälde. Seine eigenständige Arbeit hatte der Künstler in den sechziger Jahren im Medium der Malerei begonnen. Geschult am offiziellen „Sozialistischen Realismus“ wie auch an der in Künstlerkreisen durchaus bekannten Sowjet-Avantgarde der zwanziger Jahre, hat er sich mit diesen so unvereinbar scheinenden Positionen auseinandergesetzt.

Spät konnten Kabakovs schließlich auch in Russland ihre Arbeiten zeigen, so zuletzt 2018 in einer umfangreichen Werkschau in der Tretjakov-Galerie, der Nationalgalerie russischer Kunst in Moskau, in der die Malerei einen großen Platz einnahm. Am Pfingstsamstag ist Ilya Kabakov 89-jährig in seiner Exilheimat New York verstorben. Mit ihm schwindet ein Gutteil der Erinnerung an den Alltag, an Traum und Trauma des Sowjetdaseins.