Ukrainisches Kriegstagebuch (138): Jugend. Glück. Frieden

28.5.23

Wenn ich auf dieses Buch schaue, denke ich an meinen Vater, der viel fotografiert hat. Den in Moskau in den frühen Achtzigern gedruckten Fotoband mit dem Titel „JUGEND. GLÜCK. FRIEDEN“ habe ich im Jahr 2000 auf einem Berliner Flohmarkt gekauft und vor wenigen Wochen wieder aus meinem Keller geholt. Seitdem liegt er auf dem Balkontisch – hoffentlich haben die Internetexperten recht und man kann auf diese Weise den Kellergeruch loswerden.  

Ja, leider stinkt das Buch – und wenn ich es durchblättere, kommt mir sofort ein Lied von Jan Delay in den Sinn, das ich seit Jahren nicht mehr gehört habe: „Alles ist vergiftet“. Und ich denke dabei nicht an den Schimmel. Das Gift, das ich meine, ist sowjetische Propaganda, die in diesem Bildband überall zu finden ist. Nach all den Jahren ist es nur deutlicher geworden: Jede Seite enthält Lügen.  

Wo ist der Pazifismus geblieben?

Ein Drittel des Buches, also 80 von 240 Seiten, ist dem Thema Frieden gewidmet. „Unsere Erde hat Kriegswunden längst geheilt, neue Städte sind anstelle der verbrannten und zerstörten Städte entstanden, der Schmerz hat nachgelassen. Das Lied ,Meinst Du, die Russen wollen Krieg?’ wird von Millionen geliebt. Es ist eine rhetorische Frage, schließlich gab die Geschichte schon vor langer Zeit die Antwort darauf. Das sowjetische Volk hat stets konsequent die Sache des Friedens verteidigt, gegen jeden Versuch der Gewaltanwendung in den Beziehungen zwischen den Völkern gekämpft und die Beendigung des Wettrüstens gefordert. Das ist der gemeinsame Wunsch von 270 Millionen Sowjetbürgern.“ 

Von den Fotos lächeln den Leser überwiegend junge Menschen und Kinder an, wahrscheinlich leben die meisten von ihnen noch heute, schließlich sind seit der Veröffentlichung des Buches nicht einmal 40 Jahre vergangen. Ich betrachte ihre Gesichter und denke: Was ist aus eurem Pazifismus geworden? Warum brennen die Städte wieder? Wie konnte es passieren, dass ihr, die neuen Nazis, daran schuld seid?

Vor ein paar Tagen stieß ich zufällig auf den Trailer von Peter Thorwarths Kriegsspektakel „Blood & Gold“ mit Karel Gotts hysterischer deutschsprachiger Coverversion von „Paint It Black“ im Hintergrund. Das Ganze sah so albern aus, dass ich beschloss, den Film auf Netflix anzuschauen. 

Gute Nazis, schlechte Nazis

Auf dem Bildschirm meines Laptops jagen die „schlechten“ Nazis im Mai 1945 einen „guten“, und wenn er ihnen wieder entkommt, suchen sie nach Gold, das früher einer jüdischen Familie gehörte. Der „gute“ Nazi war nicht immer gut, erfahren wir. Er desertiert erst am Anfang des Films und erwähnt einmal nebenbei, er sei sechs Jahre an der Front gewesen. Am Ende sind die „schlechten“ Nazis besiegt, und der „gute“ Nazi, kriegt die Frau und findet seine vermisste Tochter wieder. 

Seit Monaten fällt es mir schwer, nicht die ganze Zeit an den Krieg in der Ukraine zu denken, und alles, was mir zum Film einfällt, hat auch damit zu tun. Der Zweite Weltkrieg endete vor 78 Jahren. Ich denke an die Zukunft, und ich versuche mir vorzustellen, wie meine Enkelkinder sich im Jahr 2301 einen Film anschauen würden, in denen ein „guter“ Russe kurz vor der Niederlage seines Landes von der Front flieht. Ein solcher Film könnte irgendwo auf den Ruinen von Belgorod oder Brjansk spielen und dem gut gebauten, hübschen russischen Soldat, der schon um Charkiw, Mariupol und Butscha gekämpft hat, würde langsam klar, dass er kein Soldat mehr sein will. Wird Russland solche Filme drehen? Und wird es überhaupt noch Russland geben?