Berlin-Comic „Hypericum“: Vom Kunsthaus Tacheles ins Tal der Könige
Es ist so lange her, dass es sich der zeitlichen Vorstellungskraft fast schon entzieht. Vor mehr als 3000 Jahren lebte und regierte der ägyptische Kinderpharao Tutanchamun und verstarb im Jahre 1323 vor Christi mit gerade einmal 19 Jahren. Das Besondere an seiner Geschichte ist, dass sein Grab samt Sarkophag und Goldschätzen über mehrere Jahrtausende unentdeckt blieb, bis 1922 der britische Archäologie Howard Carter in Ägypten darauf stieß.
Den historischen Stoff verarbeitet Comickünstler Manuele Fior in seiner neuen Graphic Novel „Hypericum“ (aus dem Italienischen von Myriam Alfano, avant, 144 S., 29 €) und verknüpft die Entdeckung der Grabkammer des Tutanchamun mit dem Berlin der 90er Jahre.
Der sensationelle Grabfund, der damals einen Hype auslöste, begeistern auch die junge Teresa, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer großen Tutanchamun-Ausstellung mitwirkt. Die beiden Handlungsstränge verlaufen parallel, immer wieder entstehen zwischen beiden wunderbare Berührungspunkte.
Komplizierte Beziehung
Das Vorgehen ist Fior vertraut: Bereits in seiner Graphic Novel „Ikarus“, die sowohl in der heutigen Zeit als auch im antiken Griechenland spielt, setzt er unterschiedliche Zeitebenen zueinander in Relation.
Mit Berlin fühlt sich Manuele Fior seit der Jahrtausendwende verbunden: In der Stadt arbeitete er von 2000 bis 2004 als Architekt, schuf seine erste längere Erzählung „Menschen am Sonntag“ und kehrte seitdem immer wieder hierher zurück, was sich auch in anderen Arbeiten niederschlug..
Die Italienerin Teresa ist gerade neu in Berlin angekommen. Als sie gleich zu Beginn den italienischen Künstler Ruben kennenlernt, entwickelt sich zwischen beiden eine Liebesgeschichte. Aber die Beziehung zwischen der zielstrebigen, erfolgreichen Teresa und dem planlosen Ruben verläuft nicht ohne Komplikationen.
Dazu kommt, dass Teresa von Schlafstörungen geplagt wird. Ruben bietet ihr daraufhin ein Mittel an, dass ihr helfen soll: Hypericum, auch als Johanniskraut bekannt. Sie lehnt ab, erst später erschließt sich ihr der faszinierende Zusammenhang zum alten Ägypten.
Genau dorthin versetzt Fior seine Erzählung immer wieder. Im Tal der Könige legen Carter und seine Helfer Stufe um Stufe frei, sie sind kurz davor, auf den sensationellen Fund zu stoßen. Durch ein Loch in der Mauer kann Carter schließlich einen ersten Blick auf all die Goldschätze erhaschen. Die Spannung auf das zu Erwartende ist förmlich spürbar.
Auch die Zeichnungen sowie die Koloration tragen zu der Stimmung bei. Für seine expressiven Bildergeschichten ist der italienische Comickünstler ohnehin bekannt. In „Hypericum“ sind die Farben matter gehalten als in früheren Werken, dennoch entsteht eine erstaunliche Lebendigkeit.
Weltgeschichte im Verborgenen
Die flirrende Hitze und die wüstenähnliche Landschaft zeichnet Fior atmosphärisch dicht mit weichen Übergängen und warmen Erdtönen, die den Ort der Ausgrabungen skizzenhaft umspielen.
In den Berlin-Szenen sind die Umrisse zwar klarer, die räumliche Gestaltung kantiger, aber auch hier durchbricht Fior immer wieder die Konturen. Die Farbvielfalt ist ungleich größer als in der kargen Landschaft aus Sand und Geröll.
Beeindruckend ist vor allem, wie kunstvoll Fior das Berlin der Nachwendezeit mit der neu entstehenden Clubszene, den besetzten Häusern und dem Kunsthaus Tacheles einerseits und den weit zurückliegenden Vorgängen im Tal der Könige andererseits nicht nur nebeneinander, sondern auch miteinander bestehen und geschickt ineinanderfließen lässt. Die ganze Dramaturgie der Erzählung hat eine besondere Ästhetik.
Das gelingt ihm vor allem über das Zusammenspiel von Bild und Text. So stehen etwa über den Bildern der Ausstellungseröffnung in Berlin einige Zeilen aus Carters Tagebuch. Darin werden Zweifel an seinem Vordringen in die jahrtausendalte Grabkammer laut. Es wirft die Frage nach der Rechtmäßigkeit der öffentlichen Zurschaustellung auf – von Dingen, die eigentlich im Verborgenen bleiben sollten.
Ein eigenwilliger Kontrast entsteht zudem, wenn Teresa Ruben in einem Berliner Club davon erzählt, wie Tutanchamuns Grab das Römische Reich, die Entstehung der Weltreligionen oder die Entdeckung Amerikas überdauert hat. „Eine Ewigkeit in finsterer Stille“, steht über einem Bild, auf dem tanzende Menschen in einem vollgefüllten Saal zu sehen sind. Es verdeutlicht, wie sich der Lauf der Weltgeschichte verändert.
Das Vergehen und die Bedeutung der Zeit sind in der Graphic Novel allgegenwärtig. In klugen, philosophischen Gedanken greift Fior das Thema immer wieder auf und verweist dabei auf etwas, das außerhalb der Handlung liegt: Dass nichts so bleibt wie es ist, jede Zeit ein Ende hat. Das deutet gegen Ende auch ein unerwartetes historisches Ereignis an, das die Entwicklung der Zeitgeschichte in eine neue Richtung lenken wird.