Ein alter Bekannter und ein phänomenales Debüt
Seit einigen Jahren gehört an den ersten Festivaltagen die ganze Aufmerksamkeit den Amerikanern. Das ist Teil der Branchenlogik, weil Venedig inoffiziell die Oscar-Saison eröffnet; an diesem Ritual hat die Pandemie nichts geändert. Die Vertreter:innen der US-Filmindustrie sind am Lido gerne gesehen, sie bringen den Glamour zurück – und den entsprechenden Tross. In diesem Jahr ist die Zahl der Akkreditierten, so meldet es die Branchenpresse, erneut auf siebzig Prozent des Standes von 2019 angestiegen. Es kommt tatsächlich wieder so etwas wie Festivalstimmung auf, auch wenn auffällig ist, wie sehr sich in diesen Tagen die Wahrnehmung des Kinos um die amerikanische Perspektive dreht: Das O-Wort ist fast unvermeidlich.
Wie passend also, dass der erste hoffnungsvolle Löwen-Kandidat den Fokus auf eine Gruppe von Amerikanerinnen und Amerikanern in Europa legt. Die Britin Olivia Colman spielt in Maggie Gyllenhaals Regiedebüt „The Lost Daughter“ die Havard-Professorin Leda, die auf der griechischen Insel Hydra einen Sommerurlaub verbringt. Sie legt es definitiv nicht auf Gesellschaft an, wie sie auch ihrem von Ed Harris gespielten Vermieter zu verstehen gibt. Die Rechnung hat sie allerdings ohne eine sehr große, sehr laute Familie aus dem New Yorker Stadtteil Queens gemacht, mit Wurzeln in der kleinen Küstenstadt.
Sie fallen mit Motorbooten in die Bucht ein, eine bedrohliche Präsenz unter den strengen Blicken des Patriarchen Vasili (Panos Koronis) und der schwangeren Callie (Dagmara Dominczyk). Die reichlich unentspannte Leda riskiert den Unmut des Clans, weil sie sich weigert, mit ihrem Badetuch am Strand Platz zu machen.
Gyllenhaal hat mit „The Lost Daughter“ einen weniger bekannten Roman von Elena Ferrante verfilmt, Covid-bedingt musste sie die Dreharbeiten nach Griechenland verlegen. Die Regisseurin und die Schriftstellerin, beide mit einem unbestechlich-umsichtigen Blick auf ihre Frauenfiguren (Gyllenhaal saß in der Cannes-Jury, die im Juli die Goldene Palme an die Französin Julia Ducournau verlieh), sind ein Traumpaar. Vor zwei Jahren schrieb Ferrante im „Guardian“, warum sie niemanden anders als Gyllenhaal als Regisseurin akzeptiere. Die zahlt das Vertrauen nun zurück. Colmans Leda ist unnahbar und verstockt, doch mit wachsender Neugier beobachtet sie aus der Entfernung die genervte Nina (Dakota Johnson) und ihre Tochter Elena, deren kindliche Launen die Privilegien ihrer Familie aufgesogen haben.
Das Drama der ungeliebten Mutterrolle
Ledas Töchter sind bereits erwachsen, doch sie erkennt sich in der jüngeren Frau und deren ambivalenter Liebe zu ihrem Kind wieder. Gyllenhaal verwebt Flashbacks aus Ledas Zeit als junge Mutter (Jessie Buckley) mit der wachsenden Obsession mit Nina. Anfangs sind es tatsächlich nur Momente aus Ledas Vergangenheit, die aufblitzen (Hélène Louvarts Kamera ist sinnlich wie eh und je); irgendwann aber übernimmt die Geschichte der ambitionierten Akademikerin die der etablierten Professorin. Buckley (voll ruheloser Energie) ist das Gespenst, das Leda heimsucht, Colman verkörpert den Schatten, der sie geworden ist.
Gyllenhaal hat Ferrantes Buch selbst adaptiert, die Textur ihrer Bilder lässt den literarischen Ursprung manchmal fast vergessen. Noch im kleinsten visuellen Detail steckt ein Information aus Ledas Leben – selbst aus den zwanzig Jahren, die „The Lost Daughter“ überspringt. Die junge Leda, wenn sie mal in ihrer ungeliebten Mutterrolle aufgeht, hat ein Spiel mit ihren Töchtern: Es gewinnt, wer geschickt genug ist, die Haut einer Orange in einem Stück zu schälen. Das ist auch „The Lost Daughter“: ein Geduldspiel, kunstvoll und zerbrechlich.
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Ein alter amerikanischer Freund des Festivals ist das Stehaufmännchen Paul Schrader bei seinem gefühlt vierten Comeback nach „First Reformed“ von 2017. Der New-Hollywood-Veteran kehrt mit „The Card Counter“ an den Lido zurück, der das unmögliche Duo aus Oscar Isaac und der Komikerin Tiffany Haddish in einem uramerikanischen Genre zusammenführt: dem Pokerfilm. Sie managt für einen Investor einen Stall von Spielern – obwohl sie Cincinnati Kid mit Minnesota Fats verwechselt. Er will genug Geld gewinnen, um dem Sohn eines Kriegskameraden aus der Hölle von Abu Ghraib die Collegeschulden bezahlen zu können.
Schraders Thema von Schuld und Sühne hat immer am besten im reinen Genrekino funktioniert. „The Card Counter“ ist slick und gradlinig, ein Film weniger Worte (außer wenn Isaac Pokertricks erklärt), aber dank Haddish mit guten Pointen. Dass Venedig einem oft gefallenen Engel wie Schrader über Jahre die Treue hält – ebenso wie Martin Scorsese, der produziert hat –, gehört zu den rührenden Festivalgeschichten. Auch Schrader weiß das Vertrauen zu würdigen, obwohl seinem Film das transzendente Moment von „First Reformed“ fehlt. Er gehört zu den US-Regisseuren, die in Cannes und Venedig immer mehr geschätzt wurden als zu Hause. Das ist die Kehrseite der Amerikaner in Europa