Warnung auf dem Wandteppich
Hier also residiert sie, die neue Jeanne d’Arc Europas, wie sie manche nennen: Swetlana Tichanowskaja, die Führerin der belarussischen Opposition. Vilnius, eine Büroetage in einem eleganten Geschäftshaus. Das Ganze erinnert eher an einen Sicherheitstrakt, mit Scannern und Leibwächtern und einer Flughafenschleuse.
Doch wenn Swetlana Tichanowskaja den Raum betritt, ändert sich plötzlich die Temperatur. Dann wird es merkwürdig still, auch wenn es vorher schon mucksmäuschenstill war. Vielleicht, weil die 39-Jährige über mehr Charisma verfügt als die drei deutschen KanzlerkandidatInnen zusammen.
Tichanowskaja wird von Leibwächtern geschützt
Vielleicht auch, weil sie den politischen Job mehr notgedrungen übernommen hat, als der wild um sich schlagende Diktator Lukaschenko ihren Ehemann, den eigentlichen Kandidaten, in den Knast stecken ließ, weil er ihm zu gefährlich geworden war.
Danach musste Swetlana Tichanowskaja überstürzt fliehen, ins Nachbarland Litauen, die beiden Hauptstädte liegen nur 180 Kilometer auseinander. Sie hatte nicht mal Wäsche dabei. „Ich weiß, dass ich gefährdet bin“, sagt sie, als sie zum Interview erscheint.
„Ich habe verstanden, dass sich manche über einen Anschlag auf mich freuen würden. Aber ehrlich gesagt: Es geht mir besser als den meisten Aktivisten in Belarus. Denn die sind auch Ziele von Anschlägen, und ich habe zumindest Leibwächter um mich. Alle Briefe, alle Geschenke an mich werden überprüft.“
Das klingt nicht wirklich gut. Und an der Grenze zwischen Belarus und Litauen braut sich seit Wochen etwas zusammen. Es droht, wenn alles schiefgeht, der nächste Krieg. Man könnte auch sagen: Er tobt bereits im Untergrund, an der Grenze, nur eine halbe Autostunde von der Hauptstadt entfernt.
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Die Schlacht hat schon begonnen mit Cyberattacken, Fake News und der Verschleppung von Migranten, die von Lukaschenko keck zu „Flüchtlingen“ erklärt werden. Flüchtlinge als Waffe – es ist zynisch.
Und die Kunst? Sie feiert ein Hochamt, mitten in Vilnius, im Contemporary Arts Center (CAC), einem weißen, brutalistischen Bau aus der Sowjetzeit, in der historischen Altstadt. Vilnius ist eine freundliche, elegante, vornehme Stadt, nur eineinhalb Flugstunden von Berlin entfernt. Und ganz sicher ein Ort der Kunst.
Selbst das CAC, dieser schwere Tanker, erscheint fast schwebend, inspirierend. Hier geht am Sonntag die Baltische Triennale zu Ende, das wichtigste Kunstereignis der Region. Mit Performances, einer Ausstellung, Diskussionen. „Unsere Triennale war immer schon höchst politisch“, sagt Kestutis Kuizinas, der Direktor des CAC. „Aber so politisch wie in diesem Jahr war sie noch nie.“
Das liegt auch am Motto: „The Endless Frontier“, die „Niemals endende Grenze“. Das Thema stand bereits letztes Jahr fest, dann sind die politischen Ereignisse geradezu in die Kunst herübergeschwappt. Man ahnte nicht, dass an der EU- und Nato-Außengrenze Gewalt zu erwarten war. Inzwischen sind auch deutsche Soldaten und ein Helikopter zur Grenzsicherung vor Ort.
Grenzen waren schon immer ein schillerndes Sujet in der Kunst. Doch in dieser zugespitzten Situation reichen ein paar schöne Bilder und ein paar schöne Worte nicht aus. Vielleicht ist deshalb Kunst in Vilnius geradezu utopisch. Sie sucht neue Lösungen oder nimmt Zustände vorweg.
Und so findet man im CAC erstaunliche Dinge. Da ist die 95-jährige Künstlerin Danutė Kvietkevičiūtė. Ihr Medium sind ausgerechnet Wandteppiche, was nun wirklich nicht nach Avantgarde klingt. Doch die Arbeiten sind höchst originell, erinnern sogar an Arcimboldo und verweisen auf eine untergründige Strömung des Surrealismus. Die Künstlerin wollte damit schon in den 80ern auf die Umweltzerstörung in der Sowjetunion hinweisen – ein Thema, das in den sozialistischen Diktaturen höchst problematisch war.
Partys in Minsk und Berlin im Split Screen
Rund 80 KünstlerInnen sind in Vilnius vertreten, viele aus den baltischen Ländern, aber auch aus Belarus, Polen und der Ukraine. Der 1983 geborene Filmkünstler Jura Shust hat die illegalen Raves, die im letzten Sommer gleichzeitig in Berlin und in Minsk in Parks stattfanden, per Split Screen nebeneinandergeschnitten. Ein Ausdruck der Lebensfreude und natürlich auch der Grenzüberschreitung gegenüber den Coronaregeln – und auch ein dezenter Hinweis darauf, wie nahe sich die jungen Menschen in beiden Welten sind.
Verstörende Bilder entwirft die polnische Medienkünstlerin Agnieszka Polska. Ein Gesicht, dessen Bestandteile dreimal übereinandergelegt werden, also drei in sich verschobene Lippen, Augen, Nasen. Als betrachte sich eine Psychotikerin im Spiegel. Dazu erscheinen fremdenfeindliche Texte. Eine formal ausgesprochen originelle, aber auch fast dämonische Installation. Oder betrachtet hier ein Diktator seine Fratze als Gegenbild?
„Wir erfassen das Thema der unendlichen Grenze nicht nur politisch, sondern auch individuell und psychologisch“, sagt Kurator Valentinas Klimašauskas. „Es geht auch um die Spaltungen in unserem Innern durch Vorurteile, Intoleranz, Fake News.“ Die stets wiederaufbereitete Hexenküche der Demagogie.
Besonders heftig wird in Litauen um das Thema LGTB gestritten. In Vilnius gibt es nicht nur eine Art Love Parade, sondern auch eine Gegenveranstaltung, eine „Familienparade“. Da demonstrieren brave Väter, besorgte Mütter und Kinder für ein aus ihrer Sicht „normales“ Familienleben, was natürlich an der künstlerischen Community nicht unwidersprochen abprallt.
Gegründet wurde die Triennale 1979
Nein, man hat nicht den Eindruck, dass diese Baltische Triennale eine Blase ist, eher eine sich fortsetzende Denkfabrik. „Für uns ist es absolut existentiell, in der Europäischen Union verankert zu sein“, sagt Direktor Kestutits Kuizinas. „Wir waren überrascht, dass der Hauptsponsor in diesem Jahr die Region Flandern ist, obwohl wir dort nicht einmal um Geld gebeten haben.“ Auch das Goethe-Institut ist dabei, fördert den kreativen Austausch an der Grenze zu Europas letztem Diktator. Besser kann man Kapital kaum anlegen.
Schon die Geschichte der Baltischen Triennale ist spannend. Kulturpolitisch ging es 1979, bei der Gründung und ersten Ausgabe, hoch her. Damals wehte noch ein eiskalter Wind aus Moskau. Estland, Lettland, Litauen wollten dem etwas entgegensetzen und fanden so zu einer Allianz. Ihnen wurde klar, dass sie ihre Ziele am besten über die Kultur erreichen konnten. Es war der eine Startpunkt der aktuellen baltischen Identität in der Kunst.
Vilnius’ Ungekünsteltheit und seine Frische tun gut. Man spürt auch noch etwas vom Stolz auf die Revolution, die 1991 zur Unabhängigkeit führte. Heute ist Vilnius auch die Bühne für die Nachbarn aus Belarus. In der Vergangenheit haben beide Völker sehr harmonisch zusammengelebt und sich unterstützt. Die berühmte Schwarze Madonna, die Barmherzige Muttergottes am Tor der Morgenröte, ist Kunst und Religion in einem.
Vor der Jesuitenkirche steht die Deutschlehrerin Lina und sagt: „Wir haben für unsere Unabhängigkeit gekämpft und das mit dem Blut unserer Menschen bezahlt. Deshalb verstehen wir sie gut, die Belarussen, die Ukrainer. Wir hoffen, dass auch sie das schaffen, was uns gelungen ist.“