Filmfestpiele von Venedig (6): Menschliche Rindviecher und andere Tiere
Zum Wiederanpfiff der zweiten Halbzeit des Venedig-Wettbewerbs sortiert sich das Feld. Frühe Favoriten wie Todd Fields metronomisch-unerbittliches Dirigentinnen-Porträt „Tár“ mit Cate Blanchett oder Luca Guadagninos Kannibalen-Roadmovie „Bones and All“ haben sich als beständig gegen die Erschöpfung durch die vielen Festivaleindrücke erwiesen. Und mittendrin, glaubt man den Branchen-Auguren, lauert auf einen Preis sogar – unbeweglich wie sein 200-Kilo-Protagonist – Darren Aronofskys Kammerdrama „The Whale“, dessen bizarrer Novelty-Effekt uns am Ende vielleicht noch mal erklären könnte, was es nun wirklich auf sich hat mit der Tragödie und der Farce.
Stellenweise sorgte „The Whale“ sogar für unfreiwillige Lacher. Das kann auf Festivals von Vorteil ist, wo es oft miserabilistisch und weltverbesserisch zugeht, sodass Komödien automatisch in den Favoritenkreis aufrücken – wie 2018 in Venedig „The Favourite“ oder in Cannes „Parasite“ 2019. Die Lacher auf seiner Seite hat dieses Jahr Martin McDonagh, der seit „Three Billboards“ am Lido Begehrlichkeiten weckt. Dir irische Dramatiker hat seinen Landsleuten mit der schwarzen Komödie „The Banshees of Inisherin“ ein rustikales Denkmal gesetzt.
Kernige Männer vor schroffer Küstenlandschaft
Aus heiterem Himmel eröffnet der bärbeißige Colm (Brendan Gleeson) seinem besten Kumpel und Thekennachbarn Padraic (Colin Farrell) ohne weitere Erklärung, dass der ihn ab sofort in Ruhe lassen soll. Was auf einer schroffen Insel vor der irischen Küste, wo die Zahl der tierischen Rindviecher die der menschlichen weit übertrifft, gar nicht so leicht ist. Der im Kopf ohnehin etwas langsame Padraic versteht die Welt nicht mehr, im Pub ist das Ende ihrer Bromance großes Thema. Bis Colm seine Drohung wahrmacht und sich verstümmelt, weil Padraic seinen einzigen Freund nicht kampflos aufgeben will.
Eine Affinität für diesen irischen Menschenschlag, vor allem für die männlichen Artgenossen (zu denen auch Padraics von Kerry Condon gespielte Schwester Siobhan Abstand hält), kann nicht schaden, um McDonaghs erdverwachsenen Humor zu goutieren. Er zeigt eine anthropologische Zuneigung für diese begriffsstutzigen Prachtexemplare (allen voran Farrell), deren Lebensmittelpunkte der Pub und die Kirche sind. Außerdem hat McDonagh in Kerry Condon eine schlagfertige Kommentatorin dieses seltsamen Biotops gefunden. „The Banshees of Inisherin“ ist bis jetzt ein Solitär im Wettbewerb.
Ebenfalls konkurrenzlos ist Joanna Hoggs „The Eternal Daughter“, der nahtlos an die autobiografische Spurensuche der britischen Regisseurin anknüpft. Nach ihren gefeierten „Souvenir“-Filmen setzt sich Hogg diesmal mit der Beziehung zu ihrer Mutter auseinander. Mutter und Tochter, beide gespielt von Tilda Swinton, verbringen ein Wochenende in einem einsamen Hotel, in dem sich keine anderen Gäste zu befinden scheinen. Die Filmemacherin möchte einen Dokumentarfilm über ihre Mutter drehen, aber ihre Annäherung verläuft schwierig und ist verstellt von Erinnerungen.
Man hätte Hogg einen anderen Film für ihre Premiere im großen Wettbewerb gewünscht. „The Eternal Daughter“ leidet trotz der unverwechselbaren Handschrift der Regisseurin sichtlich an seinem Setting – gedreht wurde unter Lockdown-Bedingungen. Hogg ist eine kluge Erzählerin, aber diesmal scheint ihr Konzept zu sehr durch, selbst durch das subtile Spiel Swintons. Auch die Spuk-Elemente lenken mehr von der Geschichte ab, als dass sie dem Geistermotiv dienlich sind. „The Eternal Daughter“ ist eher eine Skizze voll liebevoller Einfälle. Und trotzdem ein willkommener Kontrast zu den vielen Lauttönern im Wettbewerb.
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