Stachel im Fleisch der Kinogemütlichkeit
Fati entscheidet sich anders. Gegen Europa. Obwohl sie die riskante Reise durch die libysche Wüste und über das Mittelmeer geschafft hat. Italien erweist sich jedoch keineswegs als das Paradies, an dass die junge Frau aus Ghana geglaubt hat. Ein kaltes Land, sei das, erzählt Fati in der Rückschau.
„Kaum ein Weißer wollte sich im Bus neben mich setzen.“ Arbeiten, der Familie Geld schicken. Nichts gelingt der undokumentierten Migrantin. Das erzählt sie in Fatimah Dadzies spannendem Dokumentarfilm „Fati’s Choice“ in der Rückschau. Die ghanaische Produktion, die auf dem an diesem Montag beginnenden Festival Dok Leipzig im Internationalen Wettbewerb um die Goldene Taube konkurriert, zeigt eine bislang unterbelichtete Flüchtlingsperspektive: die Nöte einer Heimkehrerin.
Fenster zur Lebenswirklichkeit überall auf der Welt
Zermürbt kehrt Fati nach sechs untätigen Monaten im Flüchtlingscamp heim zu den Kindern. Ihr Ehemann, der ihre neue Schwangerschaft für einen Aufenthaltsstatus in Italien nutzen will, ist darüber so wütend, dass er sich scheiden lässt. Noch ärger als die Existenznot, trifft Fati jedoch der geballte Unmut von Familie und Freunden.
Durch ihr Scheitern scheinen auch deren Hoffnungen auf Respekt, Geld, Aufstieg dahin. Rückkehrer, die Europa schlecht reden, wollten andere doch nur entmutigen, den Traum vom besseren Leben dort nicht mehr zu suchen, schimpft eine Frau.
Trotzdem verströmt „Fati’s Choice“ Hoffnung. Nicht nur, weil Fati Selbstbewusstsein gewinnt und ihre Kinder zurückholt, die die Schwiegerfamilie ihr entzogen hat. Sondern weil er einer von drei Festivalfilmen des Projekts „Generation Africa“ ist, die aus der Perspektive afrikanischer Filmemacherinnen und Filmemacher von Migration, Ländern und Leuten erzählen. Damit und mit den insgesamt 170 Filmen aus 51 Ländern wird das wichtigste deutsche Dokumentarfilmfestival erneut seinem Anspruch gerecht, Fenster zur Lebenswirklichkeit überall auf der Welt zu öffnen. Als Stachel im Fleisch saturierter Kinogemütlichkeit.
[Dok Leipzig läuft vom 25.10. bis 31.10., im anschließenden Stream ist in den ersten beiden Novemberwochen eine Filmauswahl verfügbar, mehr dazu hier]
Ausgesucht haben Intendant Christoph Terhechte und sein Team sie aus 2800 Einreichungen. Das könnten im kommenden Jahr, wenn der coronabedingte Einbruch bei Filmproduktionen zeitversetzt zu Buche schlägt, durchaus 1000 weniger werden, vermutet Terhechte beim Telefongespräch. Dass die Konkurrenz um Weltpremieren deswegen unter den Festivals zunehme, darauf müssten sich alle einstellen, auch Spielfilmfestivals wie die Berlinale.
Im Gegensatz zum vergangenen Pandemiejahr, in dem Dok Leipzig hybrid online (für auswärtige Gäste) und in den Leipziger Kinos (für das heimische Publikum) stattfand, reisen diesmal auch wieder Filmschaffende als Gäste an. Dok Industry, der Branchentreff, läuft trotzdem weiterhin als Hybridveranstaltung.
„Dadurch können mehrere hundert Festivalteilnehmer online mitmachen. Das bedeutet 500 bis 600 Flüge weniger als in den Vorjahren.“ Ein erster Schritt zu mehr Nachhaltigkeit, die Terhechte, langjähriger Leiter des Berlinale Forums, von der ganzen Festivalszene erwartet, deren Reiseritis er vergangenes Jahr schon geißelte.
Die diesjährige Hommage ist dem israelischen Regisseur Avi Mograbi gewidmet. Den renommierten Filmemacher, der sich in seinen Werken kritisch mit der israelischen Politik auseinandersetzt, einzuladen, habe symbolischen Wert, sagt Terhechte. „Hätte es den Holocaust nicht gegeben, wäre Avi Mograbi Leipziger.“ Mograbis Mutter stammt aus Leipzig und emigrierte in den dreißiger Jahren nach Palästina, nachdem sie von Hitlerjungen auf der Straße verprügelt wurde.
Das Thema Holocaust findet sich auch im Festivaleröffnungsfilm „Der Rhein fließt ins Mittelmeer“ wieder. In dem Filmessay verwebt der Israeli Offer Avnon, Sohn polnischer Holocaust-Überlebender, der nach zehn in Deutschland verbrachten Jahren wieder zurück in seine Heimatstadt Haifa zog, Erinnerungen von Zeitzeugen und heutige Impressionen aus Deutschland, Polen und Israel zu einem schmerzhaften Assoziationsstrom. Einen weiteren thematischen Baustein liefert die Retrospektive, die unter dem Titel „Die Juden der Anderen“ den filmischen Umgang mit der Shoah in Deutschland West und Ost vergleicht, wo Filme den nationalsozialistischen Völkermord jeweils aus unterschiedlichen ideologischen Gründen relativierte.
Kluge Betrachtung des Thälmann-Monuments in Prenzlauer Berg
Streift man im Internationalen und Deutschen Wettbewerb der langen Dokumentarfilme durch die künstlerisch vielfältigen und bewegenden Identitätssuchen, Fluchtgeschichten und Porträts von Menschen, Landschaften, Orten fällt auch ein Berliner Thema auf: Betina Kuntzschs kluge und witzige Betrachtung des Thälmann-Monuments in Prenzlauer Berg. „Kopf Faust Fahne – Perspektiven auf das Thälmanndenkmal“ vereint zehn, munter mit Überblendungen, Animationen, DDR-Archivmaterial versetzte Kurzfilme, die der Vergangenheit und Gegenwart des umstrittenen Kolosses nachspüren.
Den stärksten Eindruck hinterlassen jedoch Frauen. Fürsorgliche, lebensfrohe Frauen, die ihren harten, mit Gewalt und Armut vertrauten Alltag am Fuß der gesellschaftlichen Hierarchie meistern. Die sich wie Fati aus Ghana gegen die Erwartungen von Mann und Dorf stellen.
Die wie die 25 Jahre alte Huluager aus Äthiopien in dem stimmungsvollen Porträt „Among us Women“ von Sarah Noa Bozenhardt und Daniel Abate Tilahun selber entscheiden, ob sie bei der Geburt auf die Hilfe der alten Dorfhebamme setzt oder doch ins medizinische Zentrum geht. Frauen, die wie Lilian aus Guatemala mit ihrer fröhlichen Kinderschar, der die Filmemacher Jakob Krese und Danilo do Carmo in „Lo que queda en el camino“, auf ihrem 4000 Kilometer langen Marsch bis in die mexikanische Grenzstadt Tijuana folgen, wo das ersehnte bessere Leben in den USA nur einen Steinwurf entfernt zu sein scheint und trotzdem unerreicht bleibt.
Und Frauen wie Nasim aus dem Iran, die mit 13 in Afghanistan an einen Mudschaheddin verheiratet wurde, und nun mit zwei Söhnen im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos festsitzt, das im September 2020 von einem Brand verheert wird. In dem ruhigen, von der dröhnenden Leere des Wartestands erzählenden Porträt „Nasim“, das ihr Ole Jacobs und Arne Büttners widmen, ringt sie mit um eine neue Zukunft und alltägliche Würde.
Nein, viele Dokumentarfilme der 64. Ausgabe von Dok Leipzig verheißen nichts Gutes über den Zustand der Welt. Solange es aber Frauen gibt, die im Staub eines Lagers unverdrossen eine Decke ausbreiten, die Nachbarskinder zusammenrufen und Papier und Stifte verteilen, um sie als Ersatz für den Schulunterricht zum gemeinsamem Malen anzuleiten, brennt auf dem Planeten Hoffnung noch Licht.