Gerechtigkeit auf Polnisch
Die Stadthalle von Cottbus sah diese Woche traurig aus. Das lag nicht am schlechten Wetter, sondern an der Stille in ihrem Inneren. Vor dem nüchternen Siebziger-Jahre- Bau wird Anfang November gewöhnlich ein blauer Teppich im Eingangsbereich ausgerollt, Menschen wuseln aufgeregt herum, und alle Augen sind auf die Leinwand gerichtet. Die Stadthalle fungiert traditionell als Hauptspielstätte für das Festival des osteuropäischen Films, für einige Tage wird sie zum kulturellen Herz von Brandenburg.
Vergangenes Jahr fiel der Festivalbeginn mit dem zweiten Lockdown zusammen, weshalb die Ausgabe zum 30. Jubiläum nur online stattfinden konnte. Diese Woche ging es wieder live mit 3G-Regel und 170 Filmen los – trotzdem blieb die Stadthalle verschlossen. Die Betreiber hatten sich nicht mit dem Festival einigen können. Die Leitung ließen verlauten, dass die Entscheidung gegen die Stadthalle „in erster Linie aus kaufmännischen Gründen“ gefallen sei.
Zum Festivalzentrum wurde das Weltspiegel Kino
Darunter leidet zwar das Festivalgefühl, allerdings gibt es auch neu hinzugekommene Spielstätten zu entdecken, etwa das Alte Stadthaus mit seinem schönen historischen Saal. Zum Festivalzentrum avanciert das Weltspiegel Kino, das schon lange dabei ist, und nun auch seinen zweiten Saal öffnete. Eine gute Entscheidung, denn der 1911 errichtete Jugendstilbau besitzt viel Charme – und in seinem Café entsteht mitunter doch ein wenig Festival-Buzz.
Ohnehin überwiegt die Wiedersehensfreude. Weshalb auch in den Hintergrund tritt, dass die Säle nicht voll belegt werden können und etwas weniger Filmemacher*innen als sonst ihre Werke selbst vorstellen.
Von Slowenien in die Lausitz geschafft hat es Regisseur und Drehbuchautor Matevž Luzar. Er präsentiert seinen zweiten Kinospielfilm „Orchestra“ als Weltpremiere. Und sogar der Botschafter seines Landes erscheint für ein paar stolze Grußwort im Großen Saal des Weltspiegel.
Hätte er den Film vorab gesehen, wäre er vielleicht ein bisschen zurückhaltender gewesen, werden seine Landsleute darin doch vor allem beim exzessiven Alkoholkonsum gezeigt. Aus verschiedenen Perspektiven schaut Luzar in seinem Schwarzweißfilm auf ein Wochenende, an dem eine Blaskapelle aus einem kleinen Ort in Slowenien zu einem Festival in sein österreichisches Partnerstädtchen reist. Blasmusik hört man lange keine, dafür um so mehr Trinklieder. Auch ein Grüppchen daheim gebliebener Frauen lässt es zur gleichen Zeit mächtig krachen.
Immer wieder kommt es zu komischen Momenten, womit „Orchestra“ im Wettbewerb zu den Ausnahmen zählte. Bei den zwölf Werken aus 19 Produktionsländern dominierten ansonsten ernste Themen und harte Töne. Herausragend war dabei das Drama „Leave No Trace“ von Jan P. Matuszynski, das mit dem Spezialpreis für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Es basiert auf wahren Ereignissen im Polen des Jahres 1983: Zwei Freunde, die gerade Abitur gemacht haben, werden in einer Warschauer Polizeistation brutal zusammengeschlagen. Einer von ihnen stirbt an den Folgen seiner Verletzungen, der andere kämpft für die Verurteilung der Täter.
Die Staatsmacht hält mit allen Mitteln dagegen, was Matuszynski in 160 Minuten mit einer solchen Akribie und Detailgenauigkeit nachzeichnet, dass die wachsende Verzweiflung des überlebenden Jurek (Tomasz Zietek) sowie der Mutter des toten Jungen (Barbara Sadowska) auf erschütternde Weise deutlich wird. Zusätzliche Wucht erhält der im Wettbewerb von Venedig uraufgeführte Film durch die derzeitige Debatte um die polnische Justizreform, die laut Europäischem Gerichtshof die Unabhängigkeit der Justiz außer Kraft setzt. Die Traditionslinie dieser Problematik führt „Leave No Trace“ vor: Die aufrechten Kräfte in der Staatsanwaltschaft werden allesamt ausgeschaltet.
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Ein ebenfalls von realen Schicksalen inspiriertes Drama im Wettbewerb war „107 Mothers“ von Péter Kerekes, das die Lubina gewann, den mit 25 000 Euro dotierte Hauptreis des Festivals. Der Titel bezieht sich auf die in einem Gefängnis von Odessa inhaftierten Mütter. An den Lebensgeschichten von drei dieser Frauen und ihrer Kinder orientiert sich der slowakische Regisseur, der vor allem mit Dokumentarfilmen bekannt wurde. Er folgt unter anderem der jungen Lesya (Maryna Klimova) und ihrem neugeborenen Sohn bei deren Gefängnisalltag. Zudem zeigt er interviewartige Situationen mit ihr und anderen Frauen. Einmal fragt eine Ärztin Lesya: „Wen hast du umgebracht?“ – „Meinen Ehemann“ – „Warum?“ – „Eifersucht“ – „Verstehe“.
Überhaupt scheinen zwischen dem Personal und den Gefangenen keine allzu groß Unterschiede zu bestehen. Sie sind alle Teil einer gräulich-kalten Welt, in der die Hoffnungen auf Sparflamme köcheln, allerdings nie ganz ersterben. Und so gehörte die sonnige Schlusssequenz von „107 Mothers“ – inklusive einer Anspielung auf die berühmte Treppenszene aus „Panzerkreuzer Potemkin“ – zu den berührendsten des Wettbewerbs.
Weibliche Figuren befinden sich im diesjährigen Wettbewerb in der Überzahl, allerdings sind in der Auswahl nur drei Regisseurinnen vertreten. Eine von ihnen ist Norika Sefa, deren Spielfilmdebüt „Looking for Venera“ die Coming-of-Age-Geschichte einer Jugendlichen in einem kosovarischen Dorf zeigt. Zuhause sagt Venera (Kosovare Krasniqi) kaum etwas, für ihre Wünsche scheint dort kein Platz.
Das ändert sich als sie sich mit Dorina (Rozafa Celaj) anfreundet, die mit einem Jungen ihre Sexualität erkundet. Venera eifert ihr nach, und für eine Weile sieht es so aus, als könnten die beiden sich einen kleinen Freiheitsraum in der patriarchalen Gesellschaft erobern. Die Männer und selbst die Jungs haben bei Norika Sefa eine oft bedrohliche Ausstrahlung. Sogar wenn sie nur angschnitten im Bild auftauchen, ist immer klar, dass sie das Dorf dominieren.
Viele Wettbewerbsfilme nehmen junge Menschen in den Blick. Die radikalsten zeigte Alexander Hants „In Limbo“. Zu Beginn fragt die 15-jährige Sasha den gleichaltrigen Danny: „Wenn du heute stirbst, wirst du dann glücklich über dein Leben sein?“ Seine Antwort lautet nein. Das wird sich ändern, aber der Preis, den die zwei dafür bezahlen, ist hoch.