Passagen der Hoffnung

Als Daniel Libeskind seinen Neubau für das Jüdische Museum Berlin konzipierte, musste ihm der Gedanke unerträglich erscheinen, dass die Karawane der Besucher Tag für Tag eine Ausstellung in Form der Chronologie einer kontinuierlichen Geschichtserzählung durchlaufen würde. Einer Geschichte, die durch Brüche und Zäsuren bis hin zur versuchten Auslöschung charakterisiert ist.

Jähe Leerstellen unterbrechen daher in Libeskinds Bau immer wieder die Kontinuität des Rundgangs. Die architektonischen „Voids“ repräsentieren historische Brüche im Sinne Walter Benjamins Thesen in „Über den Begriff der Geschichte“ (1940), denn: „Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“

Hundert Wissenschaftler von Berlin bis Sao Paulo

Im Rahmen der Tagung „Hoffnung“ der International Walter Benjamin Society sprach der Berliner Literaturwissenschaftler Simon Godart diesbezüglich von einem „Anspruch vergangener, von der Macht übergangener Hoffnungen an die Gegenwart“. Die Veranstaltung brachte in den vergangenen Tagen etwa hundert Wissenschaftler – von Berlin bis Sao Paulo, von Kanada bis Südkorea und Australien – virtuell zusammen.

In letzter Sekunde wurde die vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIW), vom Zentrum für Literaturforschung (ZfL) sowie der Akademie der Künste (AdK) und der Uni Halle ausgerichtete Tagung aufgrund der Corona-Situation in den virtuellen Raum verlegt.

„Hoffnung heißt, die Chance wahrzunehmen, aus Katastrophen zu lernen“, sagt MPIW-Direktor Jürgen Renn in seiner Grußadresse, die Fragen der Aktualität des Berliner Germanisten und Philosophen in den Vordergrund rückt.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können. ]

Aktuell ist Benjamin etwa als Vordenker der neuen Medien geschätzt. In seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936) begrüßte er das Medium Film als Potenzial der Demokratisierung. Im Gegensatz zur individuellen und passiv-auratischen Wahrnehmung traditioneller Kunstwerke in Museen schaffe die Darbietung der Filmkunst im Kino neue politische Kollektive.

Die Pandemie hat nun unlängst diese Kollektive wieder aus den Filmtheatern vertrieben – dafür aber sind die bis vor nicht allzu langer Zeit nur den Vorstandsetagen der Wirtschaftskonzerne vorbehaltenen Videokonferenzen in den Alltag aller als Medium der Selbstvergewisserung vorgedrungen.

Konzept der rettenden Kritik

„Mich fasziniert an Benjamin die Frage des eingreifenden Denkens und das Konzept einer rettenden Kritik“, sagt Pola Groß (ZfL). In seinem Fragment gebliebenen Hauptwerk, dem rund tausend Seiten umfassenden „Passagen-Werk“, wirft Benjamin einen Blick auf das 19. Jahrhundert, sucht dort nach Spuren enttäuschter Hoffnungen.

Er trägt Bruchstücke von Utopien zusammen, etwa der Sozialisten Henri Saint-Simon, Charles Fourier und Auguste Blanqui, wie auch der entstehenden Science-Fiction-Literatur eines Jules Verne oder – in Deutschland – Paul Scheerbart, wie die Kieler Literaturwissenschaftlerin Christine Blättler mit philologischer Sorgfalt darlegt.

In diesen Fiktionen sah Benjamin das Bewusstsein der Hoffnung auf Fortschritt virulent, das vom negativen Sein der Epoche der Industrialisierung bestimmt wurde. Die Pariser Passagen, Vorläufer der Shopping Mall, entstehen mit der Entwicklung der Textilindustrie. Benjamin werden sie zum Symbol der Verherrlichung des Warenfetischs.

Der Kolonialismus ist ein Untoter

Apropos Shopping. Kakao, Kaffee, Gewürze und, ausgerechnet, Bananen kaufte man vor hundert Jahren in Kolonialwarenläden. Uns Europäern scheint der Kolonialismus heute ungefähr so weit entfernt wie das Mittelalter. In Afrika aber führt er das Leben eines Untoten: Scheinbar Vergangenheit, bestimmt er das Alltagsleben der Menschen bis heute.

Auch unserem Alltag ist er näher, als wir meinen. Allgegenwärtig sind bei uns die Läden der Kette Edeka: der „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin“, gegründet 1898.

Zu den aktuellen postkolonialen Diskursen, zu denen auch die Provenienzforschung gehört, trägt maßgeblich die Geschichtsauffassung Benjamins bei, wie die brasilianische Psychoanalytikerin Manuela Sampaio de Mattos zeigt. Scharf kritisierte Benjamin die nur vordergründig „objektive“, Fakten häufende Geschichtsschreibung des stets noch vorwaltenden Historismus seiner Zeit als eine Art „Heiligsprechung“ der Sieger der Geschichte.

Historische Forschung ist relevant

Seine Konzeption einer adäquaten Geschichtsschreibung spiegelt das „Passagen-Werk“ wider: In Anlehnung an Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ geht es Benjamin um die gesellschaftliche Relevanz der historischen Forschung.

Mit dem Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst“ legte zuletzt Bénédicte Savoy eine Bilanz ihrer Arbeit im Auftrag des französischen Präsidenten Emanuel Macron vor. Sie trägt dazu bei, Funken der Hoffnung auf Selbstbestimmung zu entfachen für einen Kontinent, den der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel noch als „geschichtslos“ bezeichnete.

Verfolgter seiner Epoche

Als jüdischer Gelehrter war Walter Benjamin schlussendlich selbst ein Verfolgter seiner Epoche, dessen seinerzeit unterdrückte Stimme nun weltweit bewahrt wird von einer lebendigen Forschungskultur. Eine kritische Gesamtausgabe, gefördert von Jan Philipp Reemtsmas Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, ist aktuell zur Hälfte abgeschlossen und soll bis etwa 2025 vollständig vorliegen.

Diese Ausgabe wirft ein neues Licht auf Texte, die bislang im Berliner Walter Benjamin Archiv der philologischen Entzifferung harrten. Direktor Erdmut Wizisla präsentiert im Rahmen der Tagung Preziosen aus dessen Sammlung, indem er Handschriften Benjamins zum Thema „Hoffnung“ im Kafka-Essay vorführt. Die nur knapp ein Dutzend Druckseiten umfassenden Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ füllen in der kritischen Gesamtausgabe nun mit allen Typoskripten in vielen Varianten einen Band von nahezu 400 Seiten, der dieser Tage bereits in der dritten Auflage erscheint. Benjamin boomt.