Herthas Wilfried Kanga trifft endlich: Ein Tor als Therapie für die geschundene Stürmerseele

Wilfried Kanga war überraschend flott unterwegs. Dabei hatte er schon 90 Minuten in den Beinen und den größten Teil der Nachspielzeit noch dazu. Trotzdem trottete der Stürmer von Hertha BSC nicht etwa gemächlich Richtung Seitenlinie, um noch ein paar wertvolle Sekunden verstreichen zu lassen. Im Laufschritt begab er sich vom Feld.

Man musste ihm das einfach nachsehen. Mutmaßlich wurde Kangas Körper immer noch von Glücksgefühlen geflutet, ausgelöst durch sein erstes Bundesligator für Hertha BSC. Auch viel später noch, in der sogenannten Mixed Zone in den Katakomben des Olympiastadions, war er nicht zu stoppen. „Willi!“, rief ein Journalist. Kanga schaute sich um, er hob kurz die Hand – und dann war er verschwunden.

An diesem Abend mussten die anderen reden, und das ließ sich bei den Berlinern kaum jemand zweimal sagen. Denn die Erleichterung war nicht nur bei Wilfried Kanga groß, sondern auch bei seinen Kollegen. „Man hat gemerkt, dass er ein bisschen darunter leidet“, sagte Herthas Innenverteidiger Marc Kempf über all die Minuten, in denen Kanga ohne Tor geblieben war.  

Wir wissen alle, was wir an Willi haben.

Herthas Trainer Sandro Schwarz

Im Sommer hat Hertha den Franko-Ivorer für rund 4,5 Millionen Euro von Young Boys Bern verpflichtet. Zehn Mal ist er seitdem in der Fußball-Bundesliga zum Einsatz gekommen, acht Mal hat er von Anfang an gespielt. Doch mehr als zwei Pfostenschüsse, der letzte eine Woche zuvor bei der unglücklichen 2:3-Niederlage in Leipzig, war bis dato nicht für ihn herausgesprungen.

Für Stürmer ist das nur schwer zu ertragen. Tore sind ihre Währung, daraus ziehen sie ihr Selbstwertgefühl. Und trotzdem haben sie bei Hertha immer schützend ihre Hand über den bis dato glücklosen Angreifer gehalten. Sie haben seinen Eifer gelobt, den unermüdlichen Einsatz für die Mannschaft, seinen wertvollen Beitrag zu Herthas von Physis geprägtem Spiel. Die Tore würden irgendwann kommen, hatte Herthas Sportgeschäftsführer Fredi Bobic erst vor ein paar Wochen gesagt. Fast von alleine – weil harte Arbeit einfach belohnt werde. Bobic war selbst Stürmer, er kennt das aus eigenem Erleben.

Am Sonntag war es so weit. „Das ist typisch, dass er heute trifft“, sagte Herthas Mittelfeldspieler Suat Serdar nach dem 2:1-Sieg gegen Schalke 04. Es war nicht irgendein Treffer unter ferner liefen. Es war ein eminent wichtiger; einer, der das Olympiastadion erbeben ließ und dem ganzen Verein ein Gefühl der Erleichterung verschaffte. „Willi hat das gebraucht“, sagte Trainer Sandro Schwarz. Und Hertha auch.

Einen besseren Moment hätte sich Wilfried Kanga für sein erstes Tor in Deutschland kaum aussuchen können. Im Spiel gegen Schalke 04, den Aufsteiger und neuen Tabellenletzten der Bundesliga, war gerade wie aus dem Nichts das 1:1 gefallen. Nur fünf Minuten waren noch zu spielen. „Oh, nein, scheiße!“, dachte Torhüter Oliver Christensen nach dem Ausgleich durch Florent Mollet. „Nicht noch mal unentschieden.“

Schon wieder kein Heimsieg? Nicht mal gegen die Schalker, die zuvor fünf Pflichtspiele hintereinander verloren hatten? Die sich unter der Woche gezwungen gesehen hatten, ihren Trainer zu entlassen? Seit Ende April hatte Hertha im Olympiastadion nicht mehr gewonnen. Und nun das.

Doch dann eroberte Jonjoe Kenny, ein früherer Schalker, in der eigenen Hälfte den Ball. Und plötzlich ging alles ganz schnell, mit kurzen flinken Pässen, ehe Stevan Jovetic, Herthas zweiter Stürmer, den Ball perfekt in die Tiefe spielte. Kanga startete im richtigen Moment. Er lief auf die Ostkurve zu, schüttelte den letzten Schalker Verteidiger ab, überwand auch Alexander Schwolow im Schalker Tor mit einem überlegten Schuss ins lange Eck und sprintete gleich weiter über die Bande zu den Fans. „Überragend, wie er sich durchsetzt“, sagte Kapitän Marvin Plattenhardt.

Gegen Schalke war Kanga der Spieler mit den meisten Torschüssen. Fünf Mal versuchte er es. Einmal, noch am Anfang des Spiels, war es sehr knapp. Kanga startete Richtung erstem Pfosten, erwischte das Zuspiel von Dodi Lukebakio, brachte den Ball aus kurzer Distanz aber nicht an Schwolow vorbei.

Ein Tor als Therapie für die geschundene Stürmerseele. Erst einmal muss niemand mehr die Spiele und die Minuten zählen. Die Brust werde breiter, im Kopf arbeitete es weniger, sagte Sandro Schwarz über den Effekt des Treffers auf Kangas Befinden. „Wir wissen alle, was wir an Willi haben“, sagte er. Seit Sonntagabend, um kurz vor halb acht, wissen sie das sogar noch ein bisschen mehr als bisher schon.

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