Zerbrechlichkeit und Widerstand: Die Südkoreanerin Han Kang erhält den Literaturnobelpreis
Was für eine Freude, dass sich die Stockholmer Akademie entschlossen hat, endlich einmal wieder über den westlichen Tellerrand hinauszublicken. Mit Han Kang erhält in diesem Jahr eine südkoreanische Schriftstellerin den Literaturnobelpreis, die zurecht „für ihre intensive poetische Prosa, die sich mit historischen Traumata auseinandersetzt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens offenlegt“ gerühmt wird.
Han Kang, die bedeutendste koreanische Stimme ihrer Generation, wäre aber vermutlich nie in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten, wenn sie 2016 mit der englischen Übersetzung ihres Romans „Die Vegetarierin“ nicht den International Man Booker Prize gewonnen hätte.
Er bildete das Entree in einen internationalen Buchmarkt, jenseits dessen auch die Akademie noch keine Kandidatinnen und Kandidaten gefunden hat. Sie alle sind und waren Namen, die von Scout zu Scout und von Agentur zu Agentur herumgereicht und meist auch in mehreren europäischen Sprachen verlegt worden sind.
Im Fall von Han Kang, deren Werke auf trügerische Weise zugänglich sind, wurden daraus auch hierzulande Bestseller, die in vieler Hinsicht doch fremder sind, als es den Anschein hat. Für ihr Schreiben hat Han, eigentlich wenig überraschend, immer wieder beansprucht, herausfinden zu wollen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
Das Belebte und das Unbelebte
Anders als im westlichen Kulturkreis ist damit aber weniger ein moralischer Standpunkt gemeint oder ein philosophischer Humanismus, als vielmehr, die Stellung des Menschen zwischen Natur und Kultur sowie dem Belebten und dem Unbelebten zu erkunden. Nie hat sie das offensichtlicher getan als in „Die Vegetarierin“.
Eine junge Frau, Yong-Hye, beschließt vom einen auf den anderen Tag, kein Fleisch mehr zu essen. Das ist der Ausgangspunkt und für Korea eigentlich eine Provokation. Die Eskalation zur Magersucht wird, in zeitlichen und räumlichen Sprüngen, erst aus der Sicht des gleichgültigen Ehemanns erzählt, dann aus der des Schwagers, der sein künstlerisches und sexuelles Begehren auf den dürren Körper der Schwägerin richtet, schließlich aus der Sicht der älteren Schwester In-Hye, die zusehen muss, wie die Jüngere alles daransetzt, sich in eine Pflanze zu verwandeln.
Am Ende steht Yong-Hye auf dem Kopf, mit wirren Haaren, die sich als Wurzeln in die Erde einsenken sollen, und dem Wunsch, mit nichts als Sonne auszukommen. Keine Heilige, die sich in Askese übt, keine Hungerkünstlerin, sondern ein Häufchen Haut und Knochen auf dem Weg zur Zwangsernährung.
Lebendige koreanische Mythologie
Yong-Hyes Wunsch nach einer Metamorphose mag sich in eine Tradition von Ovids „Metamorphosen“ bis zu Kafkas „Verwandlung“ einbetten lassen, ohne deren Erwähnung seinerzeit kaum eine Besprechung auskam. Aber nicht nur, dass Han Kang, die in Seoul Kreatives Schreiben unterrichtet, lange ohne tiefere Kenntnisse westlicher Schriftsteller schrieb.
Ihre Imaginationen fügen sich wie selbstverständlich in die Legenden und Märchen der koreanischen Mythologie ein und eine bis heute animistisch geprägte Kultur. Und die raffinierte Schlichtheit ihres Stils gehorcht der Ökonomie eines koreanischen Satzbaus, der sich gegenüber den Möglichkeiten der deutschen Syntax viel zu sehr wie eine forcierte Verknappung ausnimmt.
Die stille Gewalt, die „Die Vegetarierin“ beherrscht, kehrt „Menschenwerk“ nach außen. Am Beispiel des Jungen Dong-Ho und anderer Überlebender erzählt Han darin von Geschehnissen in ihrer Geburtsstadt Gwangju, die 1980, zehn Jahre nachdem sie dort zur Welt kam, zum Schauplatz eines Massakers wurde. Sie hatte es zwar nicht mehr selbst miterlebt, erkannte aber genau, dass es für Südkoreas Geschichte gerade im offiziellen Verschweigen eine ähnliche Rolle spielte wie das Tiananmen-Massaker für China.
Nach der Ermordung des langjährigen Diktators Park Chung-Hee 1979 hatte im Schatten des damaligen Premierministers de facto ein General die Führung des Landes übernommen. Er verhängte Ende Mai 1980 das Kriegsrecht und ließ alle Demonstranten, die sich für demokratischere Verhältnisse einsetzten, von der Straße fegen. Hunderte von Toten, Tausende von Verwundeten und Verhafteten waren die Folge.
Eine Stimme, ein Hauch
Han Kang verfügt über eine eigentümlich sanfte, stark behauchte Sprechstimme. Sie ist ihr auch als Sängerin, die ein Album mit eigenen Balladen aufgenommen hat, zueigen. Beides sollte einen nicht dazu verleiten, ihre tatsächliche Stimme mit derjenigen zu verwechseln, die aus ihren Geschichten und Gedichten spricht. Doch lässt sich nicht leugnen, dass auch sie oft am Rande eines großen Schweigens angesiedelt sind – und das sogar thematisch.
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Das gilt besonders für die Protagonistin Ihres im Februar zuletzt auf Deutsch erschienenen Romans „Griechischstunden“. Während sie, die verstummte junge Frau, beim Vorlesen in einem Seouler Klassenzimmer keinen Ton über die Lippen bringt, schwindet ihrem Griechischlehrer das Augenlicht: zwei auf unterschiedliche Weise Traumatisierte, die sich, indem sie nach und nach ihre Geschichten kennenlernen, aufeinander zubewegen.
Unmittelbar autobiografisch, wenn auch fiktionalisiert und in ein verfremdetes Warschau verlegt, wo sie 2014 mehrere Wintermonate verbrachte, verfährt „Weiß“. In kurzen Sequenzen blendet Han die Verlusterfahrungen ihrer Mutter, die zwei Kinder, darunter Han Kangs älteste Schwester, verlor, in Reflexionen über die Farbe Weiß – in Korea der Inbegriff von Tod und Trauer. Es ist eines der wenigen Bücher, in denen sich bei ihr eine ungewöhnliche, von manchen als kitschig wahrgenommenes Sentiment in ihre Prosa schleicht.
Die Schrecken des Körperlichen
Han Kang ist nicht die einzige Koreanerin, die sich international einen Namen erschrieben hat. Neben den beiden großen alten Männern der koreanischen Literatur, dem Erzähler Hwang Sok-Yong und dem Dichter Ko Un, haben sich längst auch andere profiliert, der Erzähler Kim Young-Ha oder die großartige, unter anderem mit dem kanadischen Griffin Prize ausgezeichnete Dichterin Kim Hyesoon. Mit Han Kang teilt sie eine Obsession für die Schrecken des Körperlichen.
Die Deutschen haben das Privileg, von Han Kangs Literatur auch deswegen einen so lebendigen Eindruck gewinnen zu können, weil sich der meisten Titel die in München lebende Ki-Hyang Lee angenommen hat. Ganz ohne die beliebten Rohübersetzungen aus staatlich geförderter koreanischer Hand, die in den vergangenen Jahrzehnten gang und gäbe wären, hat sie dieser Prosa einen Klang verliehen, der zu ihrem Erfolg hierzulande entschieden beigetragen hat.
In diesem Jahr hat Lee den Preis der Leipziger Buchmesse für ihre Übersetzung von Bora Chungs Erzählungen „Der Fluch des Hasen“ erhalten. Nur „Deine kalten Hände“, ein Roman, dessen Erzählerin dem verschwundenen Bildhauer Jang Unhyong und dessen Einsamkeiten nachspürt, ist Kyong-Hae Flügel zu verdanken.
Sie haben dafür gesorgt, dass sich weit über den Anfangserfolg der „Vegetarierin“ hinaus quer durch die Generationen auch hierzulande eine kleine Gemeinde gefunden hat, die weitere Mitglieder verdient hat. Es ist auch ein Anlass, einen genaueren Blick nach Südkorea zu werfen, das von sich aus gerne zu schnell glaubt, es würde genügen, mit K-Pop und einer international angesehenen Filmproduktion auf sich aufmerksam zu machen.