Ukrainisches Kriegstagebuch (146): Das Fusion Festival hat keine Ukrainer im Programm, dafür einen Roten Platz
23.6.2023
Es regnet in Berlin, als ich losfahre, es regnet die ganze Zeit, während ich im Zug sitze. Ebenso in Leipzig, wie ich bei meiner Ankunft feststelle. Ich war bereits unterwegs, als mich die Nachricht aus dem Theater der Jungen Welt erreichte: Die heutige Vorstellung fällt aus. Unsere Bühne befindet sich draußen im Park und abends soll es laut Wettervorhersage immer noch regnen.
Ein freier Abend, ganz unerwartet – was mache ich damit? Ein guter Zeitpunkt vielleicht, endlich die Donbass-Doku auf Talkflix, der ukrainischen Alternative zu Netflix, anzusehen? Auf der Suche darauf klicke ich mich durch Dutzende geöffnete Fenster meines Internetbrowsers – Online-Plattenläden, Essays über die jüdisch-ukrainische Geschichte und vor allem Nachrichtenportale in allen Sprachen, die ich lesen kann.
In den ukrainischen Nachrichten wird über die Eröffnung der Kiewer Buchmesse Knishkovyi Arsenal berichtet, eine Serie von Fotos zeigt Wolodymyr Selenskyj, der dort gestern anwesend war. Vor zwei Jahren an diesem Tag hat er die Messe auch schon besucht, das weiß ich so genau, weil ich ihn dort selbst gesehen habe. Nur wenige Stunden später stand ich auf der Open-Air-Bühne im Hof des Mystetskyi Arsenal mit Wladimir Kaminer und Serhij Zhadan (leider war da Selenskyj aber schon weg).
Zur Buchmesse im Jahr 2021 ist die ukrainische Ausgabe von Wladimirs Buch „Der verlorene Sommer“ erschienen, übersetzt von Serhij und Oksana Shchur. Unsere Veranstaltung vereinte eine Buchpräsentation und ein kleines Konzert. Gemeinsam mit Kaminer haben wir Songs aus unserem Pandemie-Tagebuch gesungen, auch Zhadan, der dazu ein paar Strophen beigesteuert hat, machte mit. Für Wladimir und mich war es eine der ersten Auslandsreisen nach den viel zu langen Corona-Lockdowns und es schien, als ob die Welt gerade aus einem verrückten bösen Traum erwacht wäre.
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Gestern Abend telefonierte ich mit Lesik Omodada, mein Anruf erwischte ihn beim Kofferpacken. Lesik erzählte mir, dass er heute auf derselben Bühne bei der Kiewer Buchmesse mit Pyrig i Batig auftritt. Ich applaudierte im Stillen den Kuratoren von Knishkovyj Arsenal, die sich für die Band entschieden haben, denn meiner Meinung nach gibt es derzeit keinen anderen Act in der Ukraine, der so gut zu einem solchen Anlass passen würde. Ihre Vertonungen der Poesie von den ukrainischen Dichtern, die im Russischen Reich und später in der Sowjetunion zu Tode gefoltert wurden, sind ein Requiem und ein Fest zugleich.
Am Mittwoch fängt das Fusion Festival in Lärz an, mehrere deutsche Zeitungen warnen vor gefälschten Tickets. Vergangenes Jahr hat mich eine Passage über die Ukraine im Newsletter der Veranstalter stark verärgert – ihre Reaktion auf den Kriegsausbruch, die Meinung, dass die Waffenlieferungen nur den Konflikt befeuern würden sowie die Aufrufe zu Friedensverhandlungen fand ich unsensibel und gemein, wie auch viele in Deutschland lebende Ukrainer.
Der Text, den ich dazu geschrieben habe, wurde viel kommentiert, die Fusion-Fans waren empört und hatten viele Vorschläge für mich: „Geh doch für Selenskyj und seine Faschotruppe spielen” oder „Verschwinde halt, war auch ohne Dich geil!“
Ich studiere das diesjährige Programm der Fusion mit hunderten Band- und DJ-Namen. Ich möchte gern wissen, ob auch ukrainische Acts dabei sind, finde keine, entdecke dafür aber zwischen „Vulva Watching“ und „Was für ein Theater“ einen Workshop zum Thema „Waffenlieferungen in die Ukraine und der drohende Atomkrieg”.
Mir fällt auf, dass die Fusion-Macher offensichtlich nichts von ihrer Faszination für das kyrillische Alphabet und das sowjetische russland verloren haben. Der Fetivalname wird nach wie vor als фузион geschrieben, hier und da leuchten rote Sternchen und über der Ankündigung des „Karnevals der Sinne“ für eine „Parallelgesellschaft“ prangt ein Foto von einer Bühne, die Roter Platz heißt.
Bei meiner Recherche merke ich, dass ich 2022 von dem Auftritt der Band Moscow Death Brigade nichts mitbekommen habe. Wow, was für ein Bandname! Ich stelle mir lebhaft vor, wie die Parallelgesellschaft auf dem Roten Platz zur Musik von Moscow Death Brigade in einem wahren Karneval der Sinne abgeht… everybody dance now!