Das System Stadttheater
In der Debatte um Machtmissbrauch und Diskriminierung an deutschen Theatern hat der „NV Bühne“ es inzwischen zu einer traurigen Prominenz gebracht. Jener „Normalvertrag“ für selbstständige Schauspieler:innen und Bühnen-Mitarbeiter:innen, die zeitlich beschränkt für eine Produktion angeheuert werden, sorge wesentlich für prekäre Arbeitsverhältnisse und Abhängigkeiten, für intransparentes hire and fire, für eine Atmosphäre der Angst. Darin ist sich auch die Runde einig, die am späten Montagnachmittag auf Einladung der Berliner Grünen-Fraktion diskutierte, unter dem Titel „No more drama in my life“.
Was liegt strukturell auch an den Berliner Bühnen im Argen, was ist faul im „System Stadttheater“, wollen Grünen-Kultursprecher Daniel Wesener und Bahar Haghanipour von der Landesarbeitsgemeinschaft Frauen und Gender wissen. Online zugeschaltet sind unter anderem die Intendantinnen Bettina Jahnke (Hans Otto Theater Potsdam) und Julia Wissert (Schauspiel Dortmund) sowie Eva Hubert vom Vorstand der Themis-Vertrauensstelle.
Hubert kommt gleich auf das Dilemma der Zeit- und Projektverträge vor allem für Berufsanfänger zu sprechen, die ihre Arbeit ja lieben und den Job unbedingt (behalten) wollen, selbst wenn sie schon beim Casting schlecht behandelt werden.
Der grünen Kulturausschuss-Vorsitzenden Sabine Bangert stößt es bitter auf, dass Betroffene noch 50 Jahre nach Beginn der Debatte über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz oft erst dann an die Öffentlichkeit gehen oder Anklage erheben, wenn ihr Vertrag nicht verlängert wird. Vorher haben Diskriminierte offenbar zu viel zu verlieren.
So ist es, nach den Vorfällen an der Berliner Volksbühne, jetzt auch beim Maxim Gorki Theater. Die Klage einer Dramaturgin gegen „Maßregelung und Diskriminierung” und gegen die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses wird an diesem Mittwoch vom Bühnenschiedsgericht verhandelt. Sie steht auch im Zusammenhang mit einem Beschwerdebrief mehrerer Beschäftigter über Intendantin Shermin Langhoff
[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de]
Juristisch müsse nicht einmal nachgebessert werden, betont Bangert. Mit den Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetzen existieren wirkungsvolle Instrumente für die Ahndung von Fehlverhalten. Nur bei der Berichtspflicht hapert es: Staatlich subventionierte Häuser müssten die Politik viel mehr über Fortbildungs- und Schulungsmaßnahmen sowie über die Einhaltung von Compliance-Richtlinien informieren. Auch letztere gibt es längst. Der „wertebasierte Verhaltenskodex zur Prävention von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch“ des Deutschen Bühnenvereins existiert seit 2018.
Julia Wissert ist die jüngste Intendantin an einem Stadtheater
Machtmissbrauch, Rassismus und Sexismus seien ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, betonen hingegen die Intendantinnen. „So lange wir in einer Gesellschaft leben, die von -ismen geprägt ist, wird es sie auch in staatlichen Institutionen geben“, so Julia Wissert. Die 37-Jährige ist seit dieser Saison nicht nur die jüngste Intendantin in Deutschland, sondern auch die erste Person of Color, die eine Bühne leitet. Eins ihrer Projekte in Dortmund: mehr Dialog mit der Stadtgesellschaft, die ihre Wünsche an das Theater herantragen möge.
Auch was die Kultur des Schweigens betrifft, hält Wissert dagegen. Seit Jahrhunderten meldeten sich Opfer zu Wort, sie wurden nur nicht gehört. Was die Befürchtung eines zu großen Machtzuwachses bei Chef:innen mit Fünfjahresverträgen samt Verlängerung betrifft, gibt Bettina Jahnke zu bedenken, dass Macht auch Freiräume bedeutet.
„Ich kann den NV Bühne auch aussetzen und mehrjährige Verträge abschließen“. Entscheidungen über Regie-Vergaben müsse sie keineswegs selbstherrlich treffen, sie könne dies auch im Kollektiv tun. „Es liegt an mir, welche Hierarchien ich aufbaue.“
Mit Doppelspitzen und Leitungsteams gibt es gute Erfahrungen
Apropos Kollektiv. Angelika Zacek von „Pro Quote Bühne“ fordert einen Think Tank für andere Führungsmodelle. Zwar vertragen sich Kunst und Demokratie oft nicht so leicht, aber mit Doppelspitzen, Leitungsteams und mehr Mitspracherecht für Ensemblesprecher:innen gibt es laut Zacek bereits gute Erfahrungen. Mit erfrischender Ehrlichkeit berichtet Julia Wissert davon, welchen Lerneffekt das mit sich bringen kann. Da denkt sie, sie arbeitet mit einem coolen, avantgardistischen Performance-Team, und dann wünscht sich das Ensemble eine Boulevardkomödie.
Neue Leitung trifft auf Alteingesessene. Gerade Frauen auf Chefsesseln stoßen oft auf massive Ablehnung und werfen das Handtuch. Wenn der Fisch nicht mehr vom Kopf stinken und die Machtverhältnisse sich nachhaltig ändern sollen, müssen auch Menschen ohne Führungserfahrung Leitungsfunktionen übernehmen können, mit Anrecht auf flankierendes Coaching und Rückendeckung seitens der Politik. Auch darin ist die Runde sich einig: mehr Transparenz bei der Neubesetzung von Intendanzen bei aller nötigen Diskretion während der Suche, mehr Findungskommissionen, mehr Abfragen von Führungskompetenz und -konzepten. Gute Kunst lebt nicht nur vom Kunstsinn allein.
Und nicht nur bessere Chef:innen sorgen für diskriminierungsfreie Strukturen. Zwar seufzt Sabine Bangert, für mehrstündige Gespräche mit „beratungsresistenten“ Opernintendanten sei ihr die Zeit inzwischen zu schade. Aber es ist wie in jedem mittelständischen Betrieb. Ohne die Mühsal der Verständigung zwischen den Generationen, zwischen Männern und Frauen, Konservativen und Progressiven, künstlerischen und technischen Gewerken ist Wertschätzung nicht zu haben. Auch da ist das Theater ein Mikrokosmos der Gesellschaft.