Verzweifelt gegen die Zweifel: Bundestrainer Nagelsmann stützt Manuel Neuer
Der Abend endete für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft so, wie er begonnen hatte. Äußerst zäh nämlich. Bei der Abfahrt vom Mönchengladbacher Borussia-Park blieben der große Mannschaftsbus und die Kleinbusse mit den Nationalspielern auf dem Weg ins freie Wochenende schon nach wenigen Metern im Stau stecken. Bremslichter leuchteten in die Nacht.
Der letzte Mini-Van in der Schlange mit David Raum an Bord wurde von einer Menschenmenge umlagert. Die Fans riefen nach Autogrammen und Fotos. Irgendwann öffnete sich die hintere Tür des Wagens, und Raum erfüllte die Wünsche des Anhangs. Aus dem abgeschotteten und vermeintlich abgehobenen Nationalspieler war plötzlich ein normaler Mensch geworden.
In einem anderen Fall – bei Torhüter Manuel Neuer – hätte die Nationalmannschaft wohl lieber auf die Menschwerdung verzichtet. Aus dem einst Unantastbaren ist ein Normalsterblicher geworden. Das hat auch das Länderspiel am Freitagabend gegen Griechenland gezeigt. Wieder einmal.
Etwas mehr als eine halbe Stunde war vorüber. Es stand noch 0:0 zwischen den ungewohnt fahrigen Deutschen und den munter konternden Griechen, als Christos Tzolis, Stürmer des Zweitligisten Fortuna Düsseldorf, in etwas ungelenker Körperhaltung einen Schuss aufs deutsche Tor abgab. Der Ball wurde noch leicht abgefälscht, kam allerdings in derart bedächtigem Tempo angeflogen, dass Manuel Neuer ihn ohne Mühe zu packen bekam.
Intern werden wir den Fehler weder anschauen noch diskutieren noch an der Torwartfrage rumdoktern.
Bundestrainer Julian Nagelsmann
Scheinbar zu packen bekam. Denn Deutschlands Nummer eins ließ den Ball aus den Händen flutschen, Giorgios Masoura staubte zum 1:0 ab.
Mit seinem Fehlgriff fügte sich Neuer bestens in den Auftritt der gesamten deutschen Mannschaft vor allem vor der Pause. Sie reihte Fehler an Fehler, Schlampigkeit an Schlampigkeit. Der Patzer des Torhüters vor dem 0:1 war tatsächlich das Ende einer Fehlerkette, die mit dem Ballverlust von Jamal Musiala an der Seitenlinie ihren Anfang nahm.
Bundestrainer Julian Nagelsmann fand es daher zu einfach, allein Manuel Neuer für das Gegentor verantwortlich zu machen. „Wenn du als Torhüter das Ende der Fehlerkette bist, dann ist es manchmal ein Gegentor“, sagte er. „Das ist leider so.“
Nagelsmann hat sich schon zeitig festgelegt, dass Neuer seine Nummer eins sein wird bei der Europameisterschaft, die für die Deutschen am Freitag mit dem Spiel gegen Schottland beginnen wird. An dieser Entscheidung will er weiterhin keine Zweifel aufkommen lassen – auch wenn aus dem latenten Grummeln inzwischen eine deutlich vernehmbare Skepsis geworden ist.
Neuer hat zuletzt mehrmals gepatzt
Verzweifelt gegen die Zweifel. Der Bundestrainer verteidigte Neuer und damit letztlich auch sich selbst nach dem etwas glücklichen 2:1-Sieg seiner Mannschaft im letzten Test vor der EM mit großer Leidenschaft. „Intern werden wir den Fehler weder anschauen noch diskutieren noch an der Torwartfrage rumdoktern“, erklärte Nagelsmann.
Dass über den Torhüter diskutiert werde, das habe er schon mitbekommen. „Es ist ein bisschen das Medienspiel, das ist auch okay“, sagte der Bundestrainer. „Wobei ich die Sinnhaftigkeit nicht ganz nachvollziehen kann. Jeder Deutsche sollte ein Interesse daran haben, dass jeder Spieler gefestigt ins Turnier geht.“
Bei allen Verdiensten um den deutschen Fußball: Dass der inzwischen 38 Jahre alte Neuer trotz vieler langwieriger Verletzungen hierzulande immer noch und immer wieder als bester Torhüter der Welt gefeiert wird, wirkt inzwischen eher wie eine Beschwörung vergangener Zustände.
Zuletzt hat der Torhüter des FC Bayern mehrmals gepatzt: gegen Real Madrid im Halbfinale der Champions League, gegen die TSG Hoffenheim am letzten Spieltag der Bundesliga. Und nun auch in der Nationalmannschaft. Das wirft natürlich die Frage auf: Was macht das eigentlich mit Neuer selbst?
„Ich nehme keine Selbstzweifel bei ihm wahr, das ist schon wichtig“, sagte Julian Nagelsmann. „Er hat drei Weltklasseparaden gehabt, die zweifelsfrei nicht jeder hält.“ So rettete Neuer gleich in der Anfangsphase gegen Christos Tzolis, parierte, schon auf dem Rücken liegend, mit einem starken Reflex auch dessen Nachschuss aus kürzester Distanz.
„Am Ende haben wir gewonnen“, sagte Nagelsmann nach dem etwas glücklichen 2:1-Erfolg. „Offensichtlich hat er einen mehr gehalten, als er gekriegt hat, sonst hätten wir nicht gewonnen. Er hat mein Vertrauen.“ Deshalb werde er als Bundestrainer auch keine Diskussion um die Torhüterposition aufkommen lassen: „Damit stärke ich ihn.“
Neuers Mitspieler aus der Nationalmannschaft äußerten sich ebenfalls sehr wohlwollend. Die Zweifel an ihm verstehe er nicht, sagte Pascal Groß, der mit einem sehenswerten Volleyschuss kurz vor Schluss zum 2:1-Endstand getroffen hatte. „Ich bin unfassbar begeistert, wie gut er ist. Das habe ich so in meiner Karriere noch nicht erlebt. Deswegen kann ich nur in höchsten Tönen von ihm sprechen.“
Manuel Neuer wird auch am kommenden Freitag, im EM-Eröffnungsspiel, auf dem Platz stehen – obwohl es mit Marc-André ter Stegen eine herausragende Alternative im deutschen Kader gäbe. „Ich glaube, ich hatte auch viele Argumente für mich“, sagte der Torhüter des FC Barcelona. Die Rückstufung durch den Bundestrainer hat er daher nach eigener Aussage als „Schlag ins Gesicht“ empfunden.
„Es ist nicht leicht, die Nummer zwei zu sein. Aber das, was ich machen kann, das werde ich tun. Ich will helfen, wo ich kann“, hat ter Stegen, 32, in dieser Woche gesagt. Daher wünsche er Neuer auch nie, „dass irgendwas passiert, dass er einen Fehler macht. Das bin ich nicht. Das ist nicht meine Art und Weise.“