Das Ohr der Philharmoniker
Klangkunst ist schön, macht aber viel Arbeit. Per Lautsprecheransage aus dem Off im Saal der Philharmonie klingt das dann so: „Die Glissandi der Harfe und des Vibrafons können deutlicher sein, den Luxus sollten wir uns erlauben“, bittet die freundlich-bestimmte Stimme.
„Noch ein Wunsch: In Takt 55 und 56 ist die Streicher-Intonation nicht lupenrein.“ Dirigent Sakari Oramo lässt die Stelle wiederholen. „Super“, tönt die Stimme Gottes zufrieden aus dem Off. Aber nur, um dann im diplomatischen Vorschlagston erneut etwas auf Deutsch oder Englisch zu fordern: „Die Stelle zwischen dem Klavier und der Celesta in Takt 9 ist tricky, die war nicht zu hundert Prozent präzise“, schallt es.
Jetzt noch mal ohne Blättergeräusch
Den Schluss der „Patch-Session“, in der die Berliner Philharmoniker die Korrektur des anderntags für ein Album eingespielten Klavierkonzerts betreiben, markiert der Satz: „Jetzt brauche ich noch das Ende ohne Blättergeräusch.“
Der Dirigent hebt den Taktstock, das Orchester wiederholt die letzten Takte von Unsuk Chins Komposition. „Fein“, ruft die Stimme. Dirigent und Orchester applaudieren einander. Feierabend! Freitag ist es, 22 Uhr. Die Generalprobe für das Konzert am Sonnabend ist samt Korrektursession vorbei.
Morgen gilt’s dann: Das Konzert, in dem Chin und Sibelius erklingen, wird live in der Digital Concert Hall gestreamt und nach der Postproduktion archiviert. Das Klavierkonzert der zeitgenössischen Komponistin aus Korea ist darüber hinaus für die Unsuk-Chin-Edition des hauseigenen Labels bestimmt.
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Musikerinnen und Musiker raffen Instrumente und Noten zusammen. Bühnenarbeiter fahren den Flügel des Solisten mittels Lift ins Untergeschoss. Der Umbau für das am nächsten Tag stattfindende Educationprogramm beginnt.
Und da kommt auch der Qualitätskontrolleur der Philharmoniker aus dem Schwalbennest genannten Studio über der Bühne hinunter in den Saal: Tonmeister Christoph Franke. Zusammen mit dem Toningenieur macht sich der drahtige Mann daran, die Zusatzmikrofone für Klavier, Harfe, Mandoline abzubauen. Der Mikrofonwald über der Bühne lasse sich mit Hilfe von 50 Elektrowinden senken und heben, erklärt er.
Direkter Schall trifft diffusen Schall
Je nach Orchesteraufstellung gilt es vor einer Konzertaufzeichnung außerdem, einzelne Mikrofone für Solisten oder Instrumentengruppen in Position zu ziehen. Im Handbetrieb, mit Bindfäden. Die Klangmischung orientiert sich an den menschlichen Ohren.
Die zwei entscheidenden Mikrofone seien ungefähr zwischen Dirigentenpult und erster Publikumsreihe in vier Meter Höhe installiert, sagt Franke. „Dort liegt der Bereich der idealen Balance zwischen dem direkten Schall des Orchesters und dem diffusen Schall, den der Saal zurückwirft.“
Das Konzerterlebnis ist das Nonplusultra des Musikhörens. Da ist Christoph Franke ganz klar. Sein Anspruch ist, den Orchesterklang im Saal zusammen mit den Intentionen des Dirigenten optimal zu übertragen. „Die Partitur soll zum Klingen gebracht werden, die Transparenz von Scharouns Saal genauso hörbar sein, wie die Schichten des Orchesters und dessen intensive Emotionalität.
“Darum wird der Klangeindruck mit 30 bis 40 Mikrofonen gestaltet, nicht einfach nur eins zu eins dokumentiert. „Das ist eine Frage der Psychoakustik.“
Mangeldes Raumgefühl schadet der Konzentration
Im Konzertsaal kompensieren laut Franke die Augen. Den Oboenklang, der aus der Ferne kommt, macht das Gehirn präsenter, weil es den Raum mit erfasst. „Wenn ich die Oboe aber nur höre und nicht sehe, nehme ich sie nicht so konzentriert wahr, weil mir das Raumgefühl fehlt.“ Genau da kommt Christoph Frankes Kunst der Mischung ins Spiel, die er so einsetzt, wie ein Fotograf eine künstlerische Fotografie gestaltet.
Dass in den Bildern der Digital Concert Hall die dafür nötige Mikrofonierung kaum stört, sei Hans Scharouns genialem Bau zu verdanken, schwärmt Franke. Die Philharmonie hat der Mann, der das Pionierprojekt des Klassikstreamings ab 2007, also von Beginn an, mit aufgebaut hat, erstmals als Student betreten.
1987 war das. Da hat er noch Tonmeister an der Universität der Künste studiert. „Mahlers Sechste, überwältigend“, seufzt Franke. Dirigiert hat der junge Simon Rattle, der seinen Einstand bei den Philharmonikern gab. „31 Jahre später, im Juni 2018, habe ich dann als Tonmeister sein Abschlusskonzert aufgezeichnet, wieder Mahlers Sechste. Da haben sich einige Kreise geschlossen.“ Als Recording Producer hat er alle Albumproduktionen der Ära Rattle verantwortet. Jetzt ist er unter Kirill Petrenko für diese zuständig.
Den Stammplatz oben im Schwalbennest teilt sich Franke mit dem Toningenieur, der die Regler des Mischpults betätigt, während Franke, flankiert von aufzeichnenden Rechnern, unterm Kopfhörer die Partitur mitliest. Ab und zu zeichnet er Takte an, in denen Zusammenspiel oder Intonation unsauber sind, oder beispielsweise der Ton eines Horns nicht schnell genug anspricht.
Da die Konzerte an mehreren Abenden hintereinander aufgeführt werden, lassen sich in der Postproduktion Schnitzer beseitigen. Auch die – des möglichen Bildschnitts wegen in Konzertkleidung absolvierte Generalprobe – fungiert als Vorversicherung. Ein Austausch von Passagen käme aber selten vor, versichert Franke, so selten wie konkrete Änderungswünsche von Musikern. An der Nahtstelle zwischen Kunst und Technik stärkt in einem Spitzenorchester offensichtlich Diskretion die Autorität.
Ein Hauch Tuba mehr
„Oboen und Klarinetten sind etwas zu trocken. Die Pauke ist zu stark. Einen Hauch Tuba mehr können wir uns erlauben. Der Raum kann größer werden“: So klingen die Kommentare, die Franke dem Toningenieur zuruft. Auf den Monitoren tanzen die Pegel, eine Saalkamera zeigt das Orchester bei der Klangarbeit. Franke lauscht, spricht, markiert. Erstaunlich, wie der Mann die Feinheiten in der Geschwindigkeit erfassen kann. Er muss ein absolutes Gehör haben.
Groß reden geht jetzt nicht. Erst am Ende des Abends, in der leeren Kantine. Nachdem Franke, der Motivierer, hinter der Bühne noch den Klaviersolisten und ein paar Philharmoniker gelobt hat. Oboist Albrecht Meyer nennt ihn scherzhaft „Schatz“. Den Musikerinnen und Musikern sei wichtig, dass er ihnen bei den Aufzeichnungen eine Rückmeldung gebe, sagt Franke. „Das entlastet auch den Dirigenten, der weiß, er kann sich aufs Musikalische konzentrieren.“
[Alle Konzerte der Digital Concert Hall finden Sie unter: www.digitalconcerthall.com]
Und wie ist es mit dem absoluten Gehör? Er grinst. Das besitzt er nicht. „Gutes Gehör ist Trainingssache und ein Streichinstrument die beste Schule.“ Mit zehn beginnt er Klavier zu spielen. Mit zwölf kommt das Cello hinzu, dass er im Landesjugendsinfonieorchester des Saarlands spielt. Parallel zur Musikbegeisterung wächst das Interesse für Technik. Mit 14 hockt er schon am Computer, fängt an zu programmieren. „Die Kombination aus Musik und Technik ist das Faszinosum dieses Berufs.“
Da ist es folgerichtig, dass der Klassikproduzent den größten Teil seiner Arbeitszeit damit verbringt, Standards mit der Digital Concert Hall zu setzen. 40 Konzerte streamen die Philharmoniker pro Saison live. Im Archiv sind 600 Konzerte verfügbar, 500 Künstlerinterviews und 60 Dokumentationen.
Aktuell sind 2 Millionen Besucherinnen registriert. Als das Orchester im April 2020 auf die Einstellung des Konzertbetriebs mit einer 30-tägigen kostenlosen Nutzung der Plattform reagiert, machten 700 000 neue Zuschauerinnen davon Gebrauch.
Lossless Audio ist jetzt technischer Standard
Jüngste Errungenschaft in der Concert Hall ist „Lossless Audio“, ein verlustfreies Datenformat. Für jemanden, der mit Musik arbeite, sei es bislang ein mulmiges Gefühl gewesen, dass im datenreduzierten MP3-Format nur ein Zehntel der Wahrheit übertragen werde, erzählt Franke. „Nun ist die ganze hörbar.“ Aber nur mit entsprechendem Endgerät.
Dass die Philharmoniker vorauspreschen und mit 3D-Aufnahmen, 360-Grad-Kamera und Virtual Reality experimentieren, habe Tradition, sagt Franke. „Wir hatten immer den Stolz, erster bei technischen Meilensteinen zu sein.“ Los geht das 1913, als die Philharmoniker die erste Gesamtaufnahme von Beethovens Fünfter auf Langspielpatte einspielten.
Fehlt nur noch die Schalte ins Schwalbennest
Später inszeniert Karajan, der Medien-Dirigent, seine Truppe in Filmen. 1981 nehmen die Philharmoniker die weltweit erste Klassik-CD auf, Strauss’ Alpensinfonie. Die nächste Innovation, eine Laserdisc, floppt. Anders als die in der Zeit Simon Rattles entwickelte Idee, die Klassik mit Hilfe der digitalen Konzerthalle für ein jüngeres Publikum zu öffnen.
Derzeit laufen Überlegungen, den in der Pandemie unterbrochenen Kontakt zwischen Musikerinnen und Zuhörern durch interaktive Formate zu stärken. „Dann können sich Leute aus der ganzen Welt nach dem Konzert im Philharmoniker-Videochat treffen.“ Fehlt nur noch die After-Show-Schalte ins Schwalbennest.