Kampf um Sichtbarkeit: Fotografie im Holocaust
Als das KZ-Außenlager Königs Wusterhausen Ende April 1945 geräumt wurde, begann für den Fotografen Mendel Grossmann ein Marsch ins Ungewisse. Krank und ausgezehrt wurde er knapp vor dem Kriegsende von seinen Bewachern erschossen, mit 32 Jahren. Seine Kamera trug er bis zum letzten Moment bei sich.
Ein Foto aus dem Ghetto von Lodz zeigt, wie Grossmann hinter dem Rücken eines Ordners heimlich einen Zug von Menschen fotografierte, die auf ihren Abtransport in ein anderes Lager warteten. In diesem Moment riskierte er sein Leben und das seiner Familie. Der Judenrat von Lodz hatte ihm ausdrücklich verboten, privat Fotos in dem unter deutscher Besatzung eingerichteten Judenghetto aufzunehmen. Dort musste Grossmann mit seiner Familie ab 1940 leben.
Grossmann vergrub die Fotos aus dem Ghetto
Der Judenrat ließ aufwändige Mappen mit Statistiken und Fotos erstellen, in der Hoffnung, so die deutschen Besatzer von der Effizienz der Verwaltung und dem wirtschaftlichen Nutzen des Ghettos zu überzeugen. Neben diesen Auftragsarbeiten nahmen Grossmann und sein Kollege Henryk Ross heimlich tausende Fotos auf, die sie vor der Liquidierung des Ghettos im Jahr 1944 vergruben und vor der Vernichtung bewahrten.
Der mitfühlende Blick jüdischer Fotografen auf die Opfer der Naziverbrechen ist ein unschätzbares Korrektiv zu der Bilderflut, die im Auftrag der Täter entstand. So wies das Reichspropagandaministerium die Bildberichterstatter schon kurz nach dem Einmarsch in Polen an, Material für die „antisemitische Aufklärung“ zu liefern.
Gut ausgestattete Pressefotografen und Angehörigen der Propagandakompanien von Wehrmacht und SS setzten die in Ghettos zusammengepferchten Juden mitleidlos als Angehörige einer minderwertigen Rasse in Szene. Sie wurden bei Zwangsarbeit abgelichtet, die Fotos unter dem Motto „Der Jude lernt arbeiten“ verbreitet.
Falsche Belege und Propaganda
Ein Farbfoto aus dem Warschauer Ghetto von 1941 zeigt Straßenverkäuferinnen vor Ruinen, darüber ein Warnschild: „Seuchensperrgebiet“. Im folgenden Jahr suchten Filmleute in den Straßen nach Ghettobewohnern, die nicht verhungert aussahen. Sie wurden für eine angeblich dokumentarische Filmszene in ein Restaurant gebracht. So sollte belegt werden, wie es sich wenige wohlhabende Juden auf Kosten der darbenden Masse im Ghetto gut gehen ließen.
Auch Wehrmachtssoldaten machten Fotos von den Elendsgestalten in den Ghettos und schickten sie per Feldpost mit antisemitischen Kommentaren an das Nazi-Hetzblatt „Der Stürmer“.
Auf langen Leuchttischen liegen hunderte Fotos aus verschiedenen Quellen in der Mitte der Ausstellung „Flashes of Memory – Fotografie im Holocaust“, die 2018 von der Gedenkstätte Yad Vashem erarbeitet wurde. Sie werden gerahmt von Kapiteln, die ihren Entstehungszusammenhang kritisch unter die Lupe nehmen.
Erinnert wird an die Bedeutung der Foto- und Filmpropaganda für die Stabilisierung der Naziherrschaft, an die willfährigen Filminszenierungen einer Leni Riefenstahl und Hitlers Leibfotografen Heinrich Hoffmann. Am Endes des Parcours sind kaum erträgliche Filmaufnahmen aus den Konzentrationslagern zu sehen, die von den Alliierten in Umlauf gebracht wurden. Die visuelle Dokumentation der Gräuel sollte aller Welt die moralische Überlegenheit der Sieger über das Naziregime vor Augen führen. Zudem dienten die Fotos und Filme als Beweismittel für die späteren Kriegsverbrecherprozesse.
Die kritische Perspektive auf die Interessen, die das fotografische Dokumentieren leiteten, nimmt den Bildern nichts von ihrer Wucht. Wir sehen das Unfassbare zwar immer nur eingefroren und gefiltert, jeweils aus der Perspektive der Täter, Opfer und Sieger. Wer darum weiß, schaut bewusster, genauer und länger hin. Bis der Abgrund nicht mehr zu ertragen ist, in den man blickt.
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