Gelungener Auftakt mit Libertines und Florence + The Machine
Peter Doherty trägt Hut, Maßanzug und Manschettenknöpfe – immerhin zwei verschiedene. So viel Unangepasstheit muss dann doch sein. Ansonsten erinnert das Erscheinungsbild des fülligen 43-Jährigen kaum noch an den wilden Typen, der vor zwei Jahrzehnten mit seiner Band The Libertines zur Rockerneuerungswelle gehörte.
Am Hals-Tattoo erkennt man ihn dann aber und auch am Scheppersound, der von der Supersonic-Bühne vor dem Flughafen Tempelhof über das Feld weht. Und schließlich steht da ja auch noch sein alter Bandbruder Carl Barât neben ihm, ganz in schwarz, ebenfalls mit Hut und deutlich näher an seiner früheren Figur als Doherty.
Die Menschen tanzen dicht beisammen – alles sieht aus wie vor der Pandemie
Kratzig, rau – wie direkt aus der Garage klingt das Quartett aus London zu Beginn seines Auftritts. Es ist prima eingespielt, legt eine souveräne Show hin und haut ständig alte Hits wie „Boys In The Band“ und „Can’t Stand Me Now“ raus. Vorne wird Pogo getanzt, die Sonne steht ganz tief über der Bühnenkante. Und wenn Doherty und Barât wie einst gemeinsam ins selbe Mikro singen, ist die Wiederhörensfreude perfekt.
Irgendwann hat Doherty sein Hemd durchgeschwitzt, ein Knopf am Bauch geht auf, Barât legt die Lederjacke ab – und am rechten Arm ist sein „Libertine“-Tattoo in der Handschrift seines Nebenmannes zu sehen. Ein beglückender Anblick, selbst wenn die Libertines auch im Jahr 2022 nicht recht ins Sonnenlicht passen mögen.
Ins Programm des erstmals stattfindenden dreitägigen Tempelhof Sounds Festivals passen sie allerdings sehr gut. Es ist geprägt von Rockbands, wobei es auch mal etwas raviger zugehen darf wie etwa bei den Parcels, die vor den Libertines dran sind, und auf der Echo-Bühne lange Instrumentalabfahrten zelebrieren. Mitunter fügen die australischen Wahlberliner eine Nile Rodgers-Gedächtnisgitarre hinzu oder steuern Richtung Yacht Rock. Alles sehr entspannt, im Publikum wird gegrinst und geknutscht.
Das erste große Popfestival in Berlin seit Pandemiebeginn
Die Menschen tanzen, jubeln dicht beieinander, niemand trägt an diesem warmen Tag eine Maske. Das erste große Popfestival in Berlin seit Pandemiebeginn ist zugleich das Comeback des Flughafen Tempelhof als Konzertlocation nach über sechs Jahren. Und er erweist sich ein weiteres Mal als perfekter Ort für solche Veranstaltungen.
Die Organisator*innen haben alle drei Bühnen auf der Betonfläche vor dem Gebäude platziert, die Hangars und die Abfertigungshalle werden nicht genutzt. Die Wege sind verhältnismäßig kurz, die Programmierung geschickt. Angenehm auch: Der Blick fällt nicht ständig auf riesige Sponsoren-Logos. Es gibt auch keinen Rummelplatz auf dem Gelände, so wie das inzwischen häufig üblich ist. Neben Essen und Getränken kann man noch Poster, Shirts und Platten kaufen. Zwischen den Ständen parken die Busse eines TV- und eines Radiosenders.
Bei Tempelhof Sounds steht eindeutig die Musik im Zentrum, nicht der so genannte Eventcharakter. Dabei haben sich die Macher*innen – anders als ihre Kolleg*innen von Rock am Ring in der vergangenen Woche – darum bemüht, eine gendermäßig ausgewogene Mischung zu präsentieren. An weiblich geprägten Acts sind am ersten Tag etwa My Ugly Clementine, Trixie Whitley oder Freya Ridings zu erleben.
Ein Männer-Duo, das schon am frühen Nachmittag auftritt und zu den bekannteren Namen im Line-Up zählt, sind die Sleaford Mods. Wie immer mit Minimal-Set-Up: Andrew Robert stellt seinen Laptop auf eine Kiste und drückt auf „Play“, um anschließend nur noch herumzutanzen, während sich Jason Williamson zu den Postpunk-Elektrobeat-Backing-Tracks mit zunehmend röter werdendem Kopf in seine Schimpftiraden hineinsteigert. Ein großes Vergnügen, selbst wenn man dem East-Midland-Akzent des Shouters nicht immer folgen kann. Allein seine Energieleistung ist atemberaubend.
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Dasselbe gilt dann einige Stunden später für den Hauptact und Höhepunkt des Eröffnungstages: Florence Welch, Sängerin von Florence + The Machine, ist bei ihrem 90-minütigen Konzert ununterbrochen in Bewegung, springt, rennt, tanzt barfuß über die gesamte Breite der Supersonic-Stage. Weil ihre sechsköpfige Band auf einem Podest hinter der 35-Jährigen spielt, hat sie freie Bahn – und zieht die Menge ab der ersten Sekunde tief in ihren Bann.
Sie startet mit zwei Stücken ihres gerade veröffentlichten Albums „Dance Fever“, wobei sie mit der Single „King“ gleich mal ihre beeindruckende Stimmpower demonstriert. Mit „What Kind Of Man“ legt sie einen ihrer früheren Hits nach und hält die Intensität in der ersten halben Stunde konstant hoch.
Folkrock-Crescendo mit Harfe, Geige und Akustikgitarre
Beim neuen Song „Free“ entfacht die Band mit Harfe, Geige und Akustikgitarre ein Folkrock-Crescendo wie es Arcade Fire nicht packender hinbekämen. Der für Florence + The Machine typische Überwältigungssound ist für eine große Bühne wie diese absolut angemessen.
In ihrem weißen Klöppel-Umhang wirkt die ungeschminkte Florence Welch wie eine Art Hippie-Hexe. Sie hat eine unglaubliche Bühnenpräsenz und die Fans machen wirklich alles, was sie sagt: Telefon wegpacken, dann wieder auspacken und leuchten, mitspringen- und singen. Als die Sängerin davon spricht, wie sehr sie all das in den letzten Jahren vermisst hat und wie hingerissen sie von diesem Abend ist, glaubt man ihr sofort.
Und als sie „Dog Days Are Over“ singt, hört es sich fast an wie „Dark Days Are Over“. Für einen magischen Moment fühlt es sich tatsächlich so an, als seien die dunklen Tage vorbei. Doch dann tritt wieder ins Bewusstsein, dass zur gleichen Zeit in der Ukraine Krieg herrscht. Ein paar wenige blau-gelbe Fahnen sind auf dem Gelände zu sehen, Besucher*innen haben sie mitgebracht. Auf den Bühnen bleibt es seltsam still zu diesem Thema.