Die Wunde Bataclan

Sein Körper ist unversehrt. Ganz nah geht die Kamera an die Haut von Ramón (Nahuel Pérez Biscayart) heran, während er schläft, später noch einmal, als er duscht. Man sieht dem jungen Mann nicht an, dass er wenige Stunden zuvor nur knapp einem Massaker entkommen ist.

Er hat keine Wunden und ist doch tief verwundet, denn er war am 13. November 2015 mit seiner Freundin Céline (Noémie Merlant) auf dem Paris-Konzert der Eagels Of Death Metal im Bataclan, bei dem vier IS-Terroristen 90 Menschen töteten und Hunderte verletzten.

Er hat Panikattacken, sie macht weiter, als sei nichts geschehen

Um diesen Anschlag – der einzige überlebende Attentäter steht derzeit in Paris vor Gericht und hat sich vergangene Woche erstmals dazu geäußert – dreht sich der Spielfilm „Un año, una noche“ von Isaki Lacuesta. Er basiert auf einem Roman des spanischen Bataclan-Überlebenden Ramón Gonzalez und beginnt, als das verstörte Paar eingehüllt in gold-silberne Rettungsfolien den Tatort verlässt.

Schon bald zeigt sich, dass beide sehr unterschiedlich mit den Ereignissen umgehen: Céline stürzt sich in ihre Arbeit für eine Jugendhilfe-Einrichtung. Sie will partout kein Opfer sein und sagt niemandem, dass sie im Bataclan war.

Ramón hingegen leidet unter Panikattacken, kündigt schließlich seinen Job und geht zu einer Therapeutin, die ihm empfiehlt, seine Erinnerungen aufzuschreiben.

Er befolgt den Rat, versucht, alles akribisch zu rekonstruieren und zu notieren. Dabei befragt er auch Céline, als er merkt, dass er vieles nicht mehr genau weiß. Sie findet das sinnlos, hält Vergessen für die bessere Lösung. Auch weil in ihren Augen ohnehin niemand die Überlebenden verstehen kann.

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Eine Szene kurz nach dem Attentat scheint ihr recht zu geben: Céline und Ramón sind bei dem befreundeten Paar zu Gast, mit dem sie auf dem Konzert waren. Die beiden und Ramón lesen einander die Textnachrichten vor, die ihnen am Tag danach von Kolleg*innen und Freund*innen geschickt wurden: „Was dich nicht umbringt, macht dich härter“ oder „The show must go on“, heißt es da.

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Immer wieder blendet Isaki Lacuesta mit Flashbacks von Ramón und Céline zurück in die Horrornacht. Dabei bindet er auch tatsächliche Ereignisse des Abends ein, doch es geht ihm nicht um eine fiktionalisierte Nachstellung des Geschehens, wie es etwa „Utøya 22. Juli“ über die Terrortat von Anders Breivik versuchte. Lacuesta will verdeutlichen, was es bedeutet, mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu leben. Und das gelingt ihm fulminant.

Wobei er das Glück hat, mit Nahuel Pérez Biscayart („120 BPM“) und Noémie Merlant („Porträt einer jungen Frau in Flammen“) zwei der derzeit herausragendsten jungen Darsteller*innen Frankreichs in den Hauptrollen zu haben. Die Intensität, mit der sie die inneren Dramen ihrer Figuren zum Ausdruck bringen, ist atemberaubend.

[15.2., 11.30 Uhr, 16.2., 17.30 Uhr, 19.2., 21 Uhr, 20.2., 20.30 Uhr, alle im Friedrichstadt-Palast]

Etwa ab der Filmmitte – Ramón scheint es besser zu gehen – nimmt „Un año, una noche“ mehr und mehr Célines Perspektive ein und zeigt ihre wachsende Überforderung, die sich in heftigen Auseinandersetzungen des Paars entlädt. Die Frage, wann sie unter Last des Erlebten zusammenbricht, durchzieht das zweistündige Drama wie ein sich immer straffer spannender Bogen.

Allerdings verblasst die Antwort angesichts der gegen Ende beiläufig eingeführten Wahrnehmungsverschiebung, die eine ganz andere Art von Trauma ins Spiel bringt. Die Illusionsmacht Kino trifft die Macht der menschlichen Selbsttäuschung. Das könnte auch Jurypräsident M. Night Shyamalan gefallen, der selber ein Spezialist für überraschende Filmschlüsse ist.