Superspione und Meeresmysterien
Der Hafen von New Cherbourg an der Küste der Normandie wirkt auf den ersten Blick beschaulich, jedoch spielen sich in seinem Umfeld rätselhafte Begebenheiten ab. So wird eines Tages der Kadaver eines unbekannten Tieres an den Strand gespült, das wie ein Wal mit blauem Fell aussieht.
Wo etwas Ungewöhnliches passiert, sind zwei fast identisch aussehende Herren in Trenchcoats nicht weit. Die Zwillinge Emil und Émile Glacière sind Agenten der französischen Spionageabwehr. Und obendrein verbindet sie eine – wohl angeborene – Superkraft: Wenn sie körperlich angegriffen werden, verwandeln sie sich in steinerne Statuen – Schläge oder Kugeln können ihnen dann nichts anhaben.
Die neue französische Comicserie „Der Hafen der Geheimnisse“ (aus dem Französischen von Thomas Schöner, Carlsen, je 64 S., je 12 €) hat ansonsten wenig mit dem Superhelden-Genre gemein. Angesiedelt ist sie in den 1930er Jahren in der Hafenstadt New Cherbourg in der Normandie, eine erfundene Stadt, die an das reale Cherbourg angelehnt ist.
Dem Zeichner Romuald Reutiman gelingt es, diese historische Epoche zwischen den Weltkriegen stimmungsvoll einzufangen, mit viel Liebe zum Detail etwa in der Darstellung des Hotels „Roule Palace“ oder der damals gängigen Mode. Trotzdem handelt es sich um keinen konventionellen „Kostüm-Comic“, sondern um eine sorgfältig ausgedachte Alternativwelt, die auf den ersten Blick historisch aussieht, aber in der Handlung phantastische Elemente aufweist.
So wird im Auftaktband „Das Monster aus dem Meer“ eine weitere unbekannte Spezies vorgestellt, die „Gründler“. Diese sind hochintelligente, menschenähnliche Meeresbewohner, die sprechen können und freundschaftlichen Austausch mit den Wissenschaftlern aus New Cherbourg suchen.
Inspiriert vom realen Cherbourg
Im jüngst erschienenen Band 2 „Die Stille des Meeres“ wiederum wird von den Wissenschaftlern der „Comenor“ ein riesiger Unterwasserroboter erprobt, der „RG“ genannt wird (vermutlich ein augenzwinkernder Hinweis auf Hergé, den Schöpfer von „Tim und Struppi“).
Neben den beiden Emils (von denen der eine etwas tollpatschig ist, was wiederum auf die beiden Schul(t)zes aus „Tim und Struppi“ verweist), gibt es ein ganzes Ensemble an Hauptfiguren: so Professor Anton Lucas de Néhou, Kommandant Criqueboeuf, ein erfahrener Seemann, und die junge Sportlerin Julienne, die sich als Tiefseetaucherin erproben kann. Ihr kleiner Bruder Gus wiederum sorgt für zusätzliche Belustigung, denn er dressiert Vögel und ist immer für einen Streich gut.
Für Spannung sorgen die Handlanger einer dubiosen fremden Macht, die an den wissenschaftlichen Forschungen der Comenor interessiert ist, und auch nicht vor Mordanschlägen zurückschreckt.
Szenarist Pierre Gabus und Zeichner Reutimann wohnen beide selbst in Cherbourg und haben sich für die Geschichten von ihrer Stadt, deren Hafen und der natürlichen Umgebung inspirieren lassen. Mit „Valbert“, „Cité 14“ (2012 in Angouleme als beste Serie ausgezeichnet) und „Lady Rozenbilt“ hat das Team in den vergangenen 20 Jahren bereits mehrere gelungene Comicserien zusammen erdacht, die bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurden.
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Mit „Der Hafen der Geheimnisse“ (im Original „New Cherbourg Stories“) ist ihnen eine an Motiven reiche Serie gelungen, die in ihrer Mischung aus Realismus und Phantastik in die Fußstapfen von Comicklassikern wie „Tim und Struppi“, „Blake und Mortimer“ von Edgar P. Jacobs oder „Adèle Blanc-Sec“ von Jacques Tardi tritt – und trotzdem sehr eigenwillig ausfällt.
Stilistisch ist Reutimann nahe an der Ligne Claire Hergés, aber zugleich lockerer und zeitgemäßer. Und Gabus erprobt neue, ungewohnte Erzählstrukturen: So schweift die Handlung manchmal scheinbar ab, um neue Figuren einzuführen wie die charmante alte Madame Camille, die ein Raritätenkabinett besitzt. Doch diese erzählerischen Manöver sind wohldurchdacht und geben der Handlung zusätzliche Wendungen.