Ulrich Seidls umstrittener Film „Sparta“: Über Griffe und Übergriffe
Er tollt mit ihnen herum, bringt ihnen Judogriffe bei, besorgt Süßigkeiten und Drinks und stellt die Eltern zur Rede, als einer der Jungs mit Striemen auf dem Rücken ins Camp kommt. Ewald (Georg Friedrich) ist eine Vaterfigur für die sechs, sieben Buben im rumänischen Hinterland, die sich im Römerkostüm Götternamen geben und im Badebottich plantschen. Immer noch besser, als zuhause im Dorf die Zeit totzuschlagen.
Für sein Sparta-Camp hat Ewald mit den Jungs eine verrottete Grundschule hergerichtet, ein Bretterzaun schützt das Gelände vor fremden Blicken. Eigentlich ist der österreichische Ingenieur mit einer rumänischen Kellnerin (Florentina Elena Pop) verlobt, aber deren Reizwäsche macht ihn nicht an. Potenzprobleme? Ewald quält sich mit pädophilen Neigungen. Er flüchtet vor der Hochzeit, hockt auf Spielplätzen, nähert sich Kindern bei einer Schneeballschlacht – um überstürzt weiterzuflüchten. Bis er die alte Schule findet.
Ein Leidender, Verzweifelter. Abends schaut Ewald sich die Fotos an, die er von den Judo-Knaben geschossen hat, beamt sie an die Wand, zoomt auf nackte Oberkörper, eine Brustwarze, einen in der Badehose erigierten Penis. Vor allem der blasse, schmächtige Octavian hat es ihm angetan, eben jener Junge, der unter einem alkoholsüchtigen Stiefvater leidet.
Übergriffig wird Ewald seinerseits nie, er versucht vielmehr, den Jungen vor dem Trinker und Macho zu schützen. „Sparta“ handelt von einem Pädophilen, der sich zu kontrollieren weiß. Ist es glaubwürdig, dass nie eine Sexualstraftat droht, wie im zugrundeliegenden wahren Fall?
Ulrich Seidl umkreist in all seinen Filmen soziale Verbotszonen. Seit jeher nimmt der österreichische Filmemacher menschliche Obsessionen und (vermeintliche) Perversionen ins Visier, vom tierischen Begehren radikaler Hundeliebhaber über Sextourismus und religiösen Fanatismus bis zu Waffenfetischismus und Großwildjagdfieber.
Seidls Protagonist:innen sind meist einsame Existenzen, die sich selbst inszenieren und stilisieren, ob in Spiel- oder Dokumentarfilmen. Auch Georg Friedrich stattet seinen Ewald mit der inneren Unruhe eines Verlorenen aus. Schon die hohe, dünne Stimme passt nicht zu jenen stereotypen Männlichkeitsbildern, von denen er sich bedrängt sieht und die er von seinem Vater kennt, einem dementen Altnazi im Altersheim.
Dabei bilden Seidls Tableaux vivants einmal mehr den Rahmen für die Annäherung an ein Tabu. Die sorgfältig arrangierten Symmetrien signalisieren Distanz, versprechen die Objektivität einer Versuchsanordnung. Ob es sich nun um das stillgestellte Leben im Altersheim handelt, um Ewalds Entfremdung in brutalistischen, plüschig-geschmacklos eingerichteten Wohnsilos oder um die Sparta-Buben, die in Macho-Posen vor der Kamera posieren.
Seidls Changieren zwischen Fakt und Fiktion hat dem mittlerweile 70-Jährigen schon häufig Kritik eingetragen. Bei „Sparta“ wurden erstmals massive Vorwürfe erhoben. Kurz vor der Weltpremiere beim Filmfest Toronto hieß es im September 2022 in einem „Spiegel“-Artikel, die minderjährigen Darsteller seien beim Dreh nicht ausreichend geschützt gewesen. Recherchen zufolge seien sie gezielt aus schwierigen Familienverhältnissen gecastet und retraumatisierenden Szenen mit Nacktheit und Gewalt ausgesetzt worden, sie hätten teils echte Tränen geweint. Auch seien die Eltern nicht über das Pädophilie-Thema informiert worden. Im österreichischen Magazin „Falter“ war zu lesen, ein ausgebildeter Kindercoach habe am Set gefehlt.
Wann wird Regie zu unzulässiger Manipulation?
Seidl hielt in Interviews und Statements dagegen. Eltern wie Kindern sei mitgeteilt worden, es gehe um einen Erwachsenen, „der sich zu Jungen hingezogen fühlt“; im Magazin „Profil“ wurde der Regisseur von Mitarbeiter:innen verteidigt. Toronto sagte die Premiere ab, „Sparta“ lief dann auf Filmfestivals in San Sebastian und Hamburg, während Seidl erneut ins rumänische Satu Mare reiste und den Film dort den Jungen und ihren Familien zeigte.
Diese unterschrieben, nach den ursprünglichen Verträgen, weitere Einverständniserklärungen. Die österreichische Filmförderung prüfte umfassend und kam zu dem Schluss, dass es zu keiner Pflichtverletzung gekommen sei.
Einmal duschen die Jungs in Unterhosen und Georg Friedrich steht nackt bei ihnen. Es geschieht nichts weiter, aber was hat Seidl den Kindern am Set gesagt? Wann kippt Schauspielerführung in unzulässige Manipulation, und sei es durch das Verschweigen des Subtexts? Wo genau beginnt Übergriffigkeit? Bei minderjährigen Laiendarstellern sind das besonders dringliche Fragen. Ulrich Seidl hat vereinzelt offenbar nicht verhindert, dass sie verschreckt wurden, er tröstete und erklärte erst hinterher. Eine Form von Machtmissbrauch: Der Preis der Authentizität, auf die Seidl in seinen stilisierten Bildern so großen Wert legt, darf nicht das Leiden eines Kindes sein.
„Sparta“ hat einen Bruderfilm: Ewalds Bruder ist der abgehalfterte Schlagersänger Richie Bravo in „Rimini“. Das Diptychon trug den Arbeitstitel „Böse Spiele“ – bis Seidl doch zwei Spielfilme daraus generierte. Ein Extrovertierter, ein Introvertierter, beide leiden an ihrem Mann-Sein, ihrem verfehlten Leben. Und in beiden Filmen spielt Hans-Michael Rehberg den siechen, verwirrten Vater mit schonungsloser Prägnanz. Es war seine grandiose letzte Rolle vor seinem Tod 2017.
Wenn er – diese Szene gibt es in „Rimini“ wie in „Sparta“ – die Hand zum Hitlergruß hebt, bei Schuberts „Winterreise“ zu summen beginnt und leise weinend „Mama, wo bist du?“ ruft, legt er die abgründige Kehrseite des Machismo offen: Mörderische Virilität, die mit existentiellem Verlassensein einhergeht. Hans-Michael Rehberg sprengt den strengen Seidl’schen Rahmen auf. Er erzählt mehr über bedrängte, widersprüchliche Männlichkeit als sämtliche Szenen im Sparta-Camp.