Intonations Festival Berlin 2024: Glühende Kohlen
Das Klavier ist im Vorteil. Die Menschenstimme im Nachteil. Geige, Bratsche und Violoncello gerade richtig, wie sich später am Abend herausstellt. So ungerecht ist die Akustik im Kühlhaus am Gleisdreieck: Geht es um klassische Kammermusik, kommt es hier ganz entschieden auf die Dynamik der Tonquellen an, und ein bisschen auch darauf, wo wer sitzt.
Hufeisenförmig schart sich das Publikum um die Akteure des Eröffnungskonzerts der jüngsten Ausgabe von „Intonations“. Dieser exklusive Berlin-Ableger des von der Pianistin Elena Bashkirova seit mehr als zweieinhalb Jahrzehnten mit Witz, Verstand und Mut kuratierten „Jerusalem Chamber Music Festival“ findet nun schon zum zweiten Mal in dem atmosphärisch aparten Industriebau statt. Kaum geht’s los, schon ist klar: Plätze in der ersten Reihe sind nicht die besten.
Hinreißende Intensität
Auf einem davon sitzt Daniel Barenboim. Als Zuhörer. Schließlich: Er gehört seit den ersten Jerusalemer Anfängen zur illustren „Intonations-Familie“, wie die Bashkirova ihre aus nah und fern angereisten Spitzenmusiker bei der Begrüßung apostrophiert. Lauscht seiner Ehefrau mit Augen wie glühende Kohlen, als sie sich vierhändig mit Denis Kozhukhin in die Slawischen Tänze von Antonín Dvořák stürzt. Die beiden sind Feuer und Flamme und, wie gesagt, im Vorteil.
Weniger Glück haben Dvořáks Biblische Lieder op.99. Bashkirovas lakonisch antithetische Begleitung wirkt letztlich stärker als René Papes bewunderswert opernhafter Bariton. Auch ist die Raumakustik einfach ungnädig, gerade für die asketisch nach Innen gekehrten, rezitativischen Gesten dieser tschechisch-sprachigen Bearbeitung der Psalmen Davids aus der Kralitzer Bibel. Just die leisen Töne gehen verloren. Der Oktavsprung ins Falsett am Ende des sechsten Liedes (nach Psalm 143) verlischt wie eine Kerze ohne Sauerstoff.
Anschließend wird alles wieder gut und immer besser. Hinreißend die symbiotische Allianz von Mihaela Martins Violinen- mit Sindy Mohameds Bratschenklang im Tanzstück von Hans Krása, ergänzt durch Tim Parks blühenden Celloton. Schockierend der Kontrast dieser Heiterkeit zu dem wütenden Hohn von Lord Byrons Ode an Napoleon in der zwölftönigen Vertonung durch Arnold Schönberg. Luxuriös die Besetzung, mit Kathrin Rabus, Madeleine Caruzzo, Gerard Caussé, Astrig Siranossian und Yulianna Avdeeva sowie, als Sprecher, Dietrich Henschel – koordiniert von Lawrence Foster.
Zum einsamen Höhepunkt indes gerät am Ende ein früher Schönberg: Die romantisch-leidenschaftliche, zugleich aufs Feinste ausgehörte Lesart, die Michael Barenboim mit fünf Mitstreitern von dem Streichsextett „Verklärte Nacht“ op.4, nach Dehmel, abliefert. Vater Barenboim war da schon gegangen. Er hat was verpasst.