Wen trifft der Boykott?
Cannes hat die russische Delegation für das Festival im Mai ausgeladen. Die Europäische Filmakademie schließt alle russischen Filme von ihrer diesjährigen Preisverleihung aus, sie folgt damit einer Boykottforderung der Ukrainischen Filmakademie.
Auch die US-Filmindustrie boykottiert Russland. Dort wird weder der neue „Batman“ ins Kino kommen noch etwa der Marvel-Vampirfilm „Morbius“. Solange Putins Armee Krieg gegen die Ukraine führt, bringen Disney, Warner, Sony und Paramount dort keine Blockbuster heraus. Und Netflix verweigert russischen Staatssendern die Nutzung des Streamingportals, obwohl es per Gesetz dazu verpflichtet ist.
Überall solidarisiert sich die westliche Film- und Festivalszene mit der Ukraine, veröffentlicht Appelle, organisiert Unterstützung und Spenden, etwa über die „International Coalition for Filmmakers at Risk“. Die 2019 gegründete Initiative hat einen Notfallfonds aufgelegt, um ukrainischen Filmschaffenden dabei zu helfen, die Invasion auch mit der Kamera zu dokumentieren.
Und der US-Schauspieler Sean Penn war gleich letzte Woche nach Kiew gereist, um seinerseits einen Dokumentarfilm zu realisieren.
Mit einem offenen Brief reagieren außerdem über 250 Filmschaffende und Festivalkurator:innen auf die Hilferufe ihrer ukrainischen Kolleg:innen. „Wir haben Euch gehört“, heißt es darin, „wir werden nicht schweigen, bis ihr Euer Leben wiederhabt.“ Mit allen Mitteln wolle man gegen Russlands „toxischen Desinformations-Krieg” kämpfen, zugleich wolle man allen Russen und Belarussen zugewandt bleiben, die gegen Putins Krieg Widerstand leisten.
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Wozu sind solche Appelle gut? Was hilft es den Ukrainern unter russischem Beschuss, wenn die Berlinale „in Gedanken bei unseren Freund*innen in der Ukraine“ ist und ihnen „in einem Aufruf zum Frieden“ zur Seite steht?
Was nützt es, wenn das Filmfest Venedig jetzt in Rom, Mailand und Venedig Gratis-Vorführungen des Films “Reflection” organisiert? Das Kriegsdrama des ukrainischen Regisseurs Valentyn Vasjanovych basiert auf dem Donbass-Konflikt 2014 und lief letztes Jahr auf dem Festival.
Es ist „tätige Verzweiflung“, zitierte Deniz Yücel, Präsident des deutschen PEN-Zentrums, im „Süddeutsche“-Interview den Schriftsteller Wolfgang Borchert. Der Journalist, der ein Jahr in türkischer Untersuchungshaft saß, bis er nicht zuletzt auch dank internationaler Appelle freikam, hält symbolische Aktionen wie offene Briefe auch deshalb für sinnvoll, weil Wladimir Putin die westliche Öffentlichkeit nicht egal sei. Bei einem Mann, der „das Prinzip der bezahlten Troll-Armee erfunden“ habe, falle es ins Gewicht, wenn in so vielen Ländern wie möglich „Nein“ zu ihm gesagt werde.
Das Nein der Filmwelt ist unüberhörbar. Das US-Branchenblatt „Variety“ berichtet täglich darüber, wie die Medien- und Unterhaltungsindustrie überall auf der Welt den Krieg verurteilt. Die Rede ist von globaler „Mobilmachung“ mittels Sanktionen, eben jenen Sanktionen, um die ukrainische Filmschaffende den Rest der Welt seit Kriegsbeginn bitten. Als deutliche Geste dafür, dass sich das Entertainment-Geschäft mit Kriegstreibern verbietet. Die Webseite cineuropa.org listet ebenfalls Solidaritätsadressen aus der europäischen Filmszene auf. Auch von der belarussischen Filmcommunity, die die russische Militäraggression aufs Schärfste verurteilt.
Der Sender Arte wiederum versammelt unter dem Hashtag #notspeechless Videostatements aus der Ukraine, der östlichen und der westlichen Welt, von Shirin Neshat über Oksana Lyniv bis zu Marina Abramovic. Die serbische Star-Perfomerin hatte 2021 zum 80. Jahrestag des Massakers an den Juden in Babyn Jar am Stadtrand von Kiew eine „Crystal Wall of Tears“ errichtet. „Dieser Angriff ist ein Angriff auf uns alle. Und auf die Menschlichkeit, er muss gestoppt werden“, sagt Abramovic Eine der russischen Bomben schlug inzwischen in einem der Gebäude ein, das Teil des in Aufbau befindlichen Babyn-Jar-Memorials werden sollte.
Der ukrainische Filmemacher Oleg Sentsov kämpft jetzt mit der Waffe
Ebenfalls bei #notspeechless dabei ist der ukrainische Filmemacher und Maidan-Aktivist Oleg Sentsov, der nach der Krim-Annexion in russische Gefangenschaft geriet und nach seinem 145-tägigen Hungerstreik in einer sibirischen Strafkolonie 2019 freikam. Er tritt nicht nur mit Worten gegen die Russen an, sondern auch in Kampfmontur. Sentsov kämpft jetzt mit der Waffe.
Es gibt aber auch zahlreiche russische Produzenten, Regisseur:innen und Schauspieler:innen, die sich Anti-Kriegs-Erklärungen aus der Kulturwelt angeschlossen haben, wie etwa “Screen International” berichtet. Zu den Unterzeichnern russischer Petitionen gehören der Film- und Theatermacher Vladimir Mirzoev, Andrey Smirnov („A Frenchman), DAU-Regisseur Ilya Khrzhanovsky, die Schauspielerin Chulpan Khamatova, die hierzulande mit “Good Bye, Lenin!” bekannt wurde, und der Dokumentarfilmer Vitaly Mansky („Putins Zeugen“), der im Exil in Riga lebt.Viele von ihnen gehen ein hohes persönliches Risiko ein.
Den Krieg gegen die Ukraine nennen sie eine Schande: “Wir wollen nicht, dass unsere Kinder in einem Aggressorstaat leben”. Putins Propaganda von den Ukrainern als „Nazis“ glauben sie nicht, sie rufen alle russischen Bürger auf, Nein zum Krieg zu sagen.
Auch russische Kameraleute und Drehbuchautoren distanzieren sich von Putins Krieg
Prominente, teils oscar-nominierte russische Kameraleute und Drehbuchautor:innen haben sich ebenfalls für Protestnoten zusammengetan. In der Erklärung der Autoren heißt es, die russische Regierung habe das Wort „Krieg“ verboten, „Frieden“ sei hingegen noch erlaubt. Aber der Frieden in der Ukraine sei gewaltsam zerstört worden, auch für die Russen sei der Frieden verschwunden. „Die Regierung drängt uns in eine Welt des Terrors, der Isolation, der ökönomischen, kulturellen und menschlichen Katastrophe.” Unterschrieben hat auch der Moskauer Drehbuchautor Roman Kantor, der gerade für Netflix „Anna Karenina” adaptiert.
Der Boykott der Europäischen Filmakademie trifft jetzt auch Menschen wie sie. Denn es ist das eine, offizielle russische Delegationen für unerwünscht zu erklären, wie Cannes es tut. Aber es ist etwas anderes, russische Künstler und ihre Werke als Ganzes vom Europäischen Filmpreis auszuschließen.
Der Krieg verbietet Nuancen? Wenn die westliche Welt prominente Putin-Unterstützer wie den Dirigenten Valery Gergiev jetzt nicht auftreten lässt, handelt es sich um eine angemessene Reaktion. Aber es darf weder Gesinnungsprüfungen geben noch einen pauschalen Mit-Boykott all derjenigen, die sich Gefahren aussetzen, wenn sie protestieren, als Russen, in Russland.
Der vielfach mit Preisen ausgezeichnete, teils in Berlin lebende ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa (“Maidan”, “Austerlitz“, “Donbass”) ist Anfang der Woche jedenfalls aus der Europäischen Akademie ausgetreten. Die russischen Kollegen, die ihre Stimme „gegen diesen wahnsinnigen Krieg” erheben, seien „so wie wir Opfer dieser Aggression“, begründet der Filmemacher seinen Schritt, nachdem er die Akademie vor ihrer Boykott-Ankündigung zunächst dafür kritisiert hatte, zu vage auf die Invasion zu reagieren. Als einer der ersten habe sein russischer Dokumentarfilmkollege Viktor Kossakovsky (sein jüngster Film „Gunda“ lief 2020 auf der Berlinale) ihm nach Beginn der Invasion eine Nachricht geschickt: „Vergib mir. Dies ist eine Katastrophe. Ich schäme mich so.” Auch “Leviathan”-Regisseur Andrey Zvyagintsev ließ ihm eine Solidaritätsbotschaft zukommen.
Es sei grauenvoll, was vor unser aller Augen geschieht, so Loznitsa. „Aber ich bitte Euch, nicht verrückt zu werden. Wir sollten Menschen nicht nach ihrem Pass beurteilen, sondern nach ihren Taten.“ In der European Film Academy, heißt es auf Nachfrage im Berliner Büro, wird derzeit diskutiert.
Wie es wohl ausgeht? Es kann nicht sein, dass russische Filmschaffende, die unabhängig von der staatlichen Film- und Förderpolitik ihres Landes arbeiten und die sich mutig gegen Putins Krieg stellen, vom Westen mit einem Bann belegt werden.