Neun Berliner Galerien gastieren in Kirchmöser: Träume in der alten Pulverfabrik

Aus dem Raum leuchtet es rot wie aus einem Bordell. Sex gibt es dort aber nicht, stattdessen lockt Björn Melhus mit den drei monumentalen Neonbuchstaben „EIS“ – das aber auch schon alle ist. Die Kühltruhe im Raum glänzt leer und wie ein technisches Überbleibsel aus einer besseren Zeit.

Auch das Gebäude hat es einmal besser gehabt. Riesig und repräsentativ steht es in Kirchmöser unmittelbar am Wasser, in dem Klinkerbau aus dem frühen 20. Jahrhundert war einst die Hauptverwaltung jener Pulverfabrik untergebracht, die sich weit über die Halbinsel erstreckt. Noch immer wird hier gearbeitet, viele Fabrikgebäude hat man umgewidmet und produziert nun für den Bahnverkehr.

Bloß das mondäne Theater mit Klubhaus für die einstigen Mitarbeiter fiel bislang aus der Neunutzung ebenso heraus wie das zweigeschossige Bürogebäude mit seiner kleinteiligen Raumstruktur. Zuletzt war es ein Krankenhaus, verfallende Beschriftungen wie „Röntgen“ oder eine Tür mit isolierendem Kunstleder erinnern an diese Phase.

Geheimnisse und der Geruch von Medizin

Ein Paradies für Künstler:innen, die Historie des ruinösen Hauses animiert zu Gedanken über zerstörte und wieder eingerenkte Körper. Über Tod und Nacktheit, Geheimnisse und den Geruch nach Medizin. Gegen letzteren hat Flavin Cacoveanu gleich mal ein paar Zitronen und Limetten in eines der Zimmer geworfen. Wie Perlen liegen sie auf dem Boden, als „Ritual with Citrus Fruits“, und verströmen ihren Duft. Die Arbeit gehört zur momentanen Ausstellung „Am Seegarten “, die die Architektur wiederbeleben soll. Knapp 60 der wie Boxen wirkenden Zimmer werden von neun Berliner Galerien bespielt, und nicht wenige der von ihnen vertretenen Künstler:innen beschäftigen sich ohnehin mit Themen, die Physis und Psyche berühren.

Cacoveanu ist im Programm der Galerie Plan B, genau wie Navid Nuur oder Ran Zhang in den benachbarten Zimmern. Eva Koťátková, deren Collagen um die pädagogische wie mentale Zurichtung zarter, menschlicher Gestalten kreisen, stellt bei Meyer Riegger aus. Von Fiete Stolte (Klosterfelde Edition) bewegen sich zwei überlange Anzüge aus Glitzerfolie im Wind, als sollten sie für das nächste Fest kurz auslüften. Auch Franz West scheint eben noch in Kirchmöser gewesen zu sein, um seine (therapeutische) Arbeit aufzubauen – dabei ist der Wiener Künstler längst verstorben. Bloß sein anarchischer Geist wirkt nach in der Edition, die ihr Besitzer selbst installieren kann.

Christian Petzold hat hier „Barbara“ gedreht

All diese Arbeiten sind keineswegs für den Ort entstanden, der eine Art Berliner Außenstelle werden soll. Aber sie verstärken oder kontrastieren die eigenwillige Stimmung im Haus. Das in Wedding beheimatete Kulturquartier Silent Green und die Ebensperger Galerien haben den Verwaltungstrakt wie auch das Theater vor einiger Zeit erworben, um Platz für Ateliers und künstlerische Projekte zu schaffen. Im Theater entsteht eine Probebühne: Berlin ist nicht weit und Raum für Kultur in der Hauptstadt inzwischen so teuer, dass es Ausweichquartiere braucht. Eine Stunde mit der Bahn oder dem Auto bis nach Brandenburg an der Havel sind keine Distanz mehr. Regisseur Christian Petzold hat es vorgemacht: Sein Film „Barbara“ spielte schon 2012 vor der Kulisse von Kirchmöser.

Die jetzige Schau fungiert als gelungenes warmup. Aus dem wahnwitzigen visuellen Angebot schälen sich einzelne Arbeiten, die extra für den Ort entstanden sind. John Bock (Galerie Sprüth Magers) hat ein rostiges Krankenbett installiert und Heiner Franzen mit „Schaukel“ eine filmische Arbeit, die die dunklen Kapitel der Psychiatrie aufrollt: das Fixieren vermeintlich unkontrollierbarer Patienten. Ein gedankliches Spiel am Abgrund klinischer Methoden. Nach dem Kehraus wird es hier eher Eis statt Einzelzelle geben. Irgendjemand füllt sicher die Truhe von Melhus auf.