Was dem Intendanten wichtig ist
Im Herbst wird Daniel Barenboim 80 Jahre alt – und er schenkt sich dann das Aufwändigste, was das Musiktheater zu bieten hat: Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ – und zwar realisiert in einem Stück an seiner Staatsoper: Zum Saisonstart im Oktober werden alle vier Teile des 16-Stünders ihre Premieren feiern. So etwas können normalerweise nur die Bayreuther Festspiele stemmen. Und selbst ein Festival bringt diese Tetralogie an den Rand der Leistungsfähigkeit. Dieses Projekt bei laufendem Spielbetrieb zu stemmen, grenzt an Wahnwitz.
„Es ist ein logistisch extrem komplexes Vorhaben“, sagt Staatsopernintendant Matthias Schulz im Tagesspiegel-Interview. „Wir haben bereits im Januar mit den Proben begonnen. Und die laufen ab wie die Dreharbeiten für einen Kinofilm. Es geht nicht chronologisch vorwärts, sondern mal ist eine Szene aus der ,Götterdämmerung’ dran, dann springt das Team drei Opern zurück, nimmt sich eine ,Rheingold’-Sequenz vor, und so weiter.“ Schulz ist trotzdem voller Vorfreude auf Barenboims dritten Berliner „Ring“. Denn er konnte einen Regisseur verpflichten, um den sich auch Katharina Wagner bemüht hat: Dmitri Tscherniakow.
Im Februar 2023 ist der Intendant als Pianist zu erleben
Der Russe ist für seine Detailversessenheit ebenso berühmt wie berüchtigt. „Die Geschichte spielt in einem Forschungsinstitut, das als Start-Up von Wotan gegründet wurde“, erzählt Schulz. Mehr aber will er noch nicht verraten.
Den Göttervater wird Michael Volle singen, aktuell der faszinierendste Charakterdarsteller unter den internationale erfolgreichen Opernsolisten. „Volle ist ein Phänomen“, schwärmt Schulz, „einerseits ein Ausbund an Extrovertiertheit, ein echtes Bühnentier, andererseits aber auch extrem umsichtig in der musikalischen Arbeit, sensibel und hellhörig.“ Und er hat nicht nur die Wuchtbrummen-Partien drauf, sondern singt auch unvergleichlich Schubert-Lieder. Im Februar beispielsweise „Die Winterreise“ im Apollosaal der Staatsoper. Am Klavier begleitet ihn dann Matthias Schulz, der ja nicht nur Diplom-Volkswirt ist, sondern auch studierter Konzertpianist.
Die Barocktage sind Schulz’ Erfindung
Das verbindet ihn mit seinem Generalmusikdirektor. Daniel Barenboim allerdings wirft als Weltstar einen so riesigen Schatten, dass alle Intendanten seiner bald 30-jährigen Amtszeit stets nur schemenhaft wahrzunehmen waren. Das gilt auch für den seit 2018 amtierenden Matthias Schulz. Dabei hat der nicht nur den Wiedereinzug nach der Sanierung souverän gemanagt, sondern auch eigene künstlerisch Akzente gesetzt.
Mit den Barocktagen beispielsweise. Vor Corona kamen bis zu 16 000 Besucher aus 45 Ländern zu dem November-Festival, das klug platziert ist zwischen dem Spielzeit-Start und dem Weihnachtsgeschäft. „Musiktheater des 18. Jahrhunderts gibt es sonst nicht viel in Berlin“, sagt Schulz, „und der recht kleine Saal der Staatsoper bietet für diese Werke ideale akustische Verhältnisse.“ Erstmals hat Schulz Opern von Rameau, Scarlatti und Campra Unter den Linden präsentiert. 2022 folgen Vivaldis „Il Giustino“, Mozarts „Mitridate“ sowie eine Wiederaufnahme von Monteverdis „Poppea“.
Simon Rattle wird Mozart dirigieren
Wichtig ist Schulz auch die zeitgenössische Musik. Dafür hat er die Programmlinie „Linden 21“ erfunden, bei der in der kommenden Saison drei Regisseurinnen im „Alten Orchesterprobensaal“ neue Werke herausbringen werden. Barbora Horakova hat Schulz außerdem mit der Inszenierung der Vivaldi-Oper auf der Hauptbühne betraut.
Seine erste große Premiere wird auch Thomas Guggeis haben. Der 1993 geborene Dirigent hat als Assistent von Daniel Barenboim an der Staatsoper begonnen, sprang spektakulär kurzfristig bei einer „Salome“-Premiere ein und wurde daraufhin zum Kapellmeister berufen. Mit dem Regie-Megastar Romeo Castellucci wird er sich 2023 Richard Strauss’ selten gespielte „Daphne“ widmen.
Simon Rattle, der Staatsoper seit langem freundschaftlich verbunden, leitet die Neuproduktion von Mozarts „Idomeneo“ (Regie: David McVicar), Florian Boesch bringt Schuberts Liederzyklus „Die schöne Müllerin“ auf die Bühne, zusammen mit dem Regisseur und Puppenspieler Nikolaus Habjan und der Musicabanda Franui, einer Gruppe, die sich selbst als „Umspannwerk“ zwischen Klassik, Volksmusik, Jazz und Heutigem bezeichnet. „Sie nutzten das Instrumentarium der Berge“, erklärt Schulz. „Das passt zu Schubert, der ja aus dem Alpenraum kam – was stets in seiner Musik mitschwingt“.
Die Staatsoper ist ihm ans Herz gewachsen
Matthias Schulz stammt ebenfalls aus diesem Kulturkreis, er wurde 1977 in Bad Reichenhall geboren, hat später lange in Salzburg gelebt. Und doch sagt er von sich: „Ich bin wahnsinnig gerne in Berlin. Ich war von der ersten Sekunde an fasziniert, dass man hier die ganze Bandbreite der Gesellschaft erleben kann. Und auch die Staatsoper mit allen Mitarbeitenden ist mir sehr ans Herz gewachsen.” Dennoch hat er sich entscheiden im Sommer 2024 in die Schweiz zu wechseln, um das Opernhaus in Zürich zu übernehmen. Dort hat der Intendant unter anderem das Recht, einen Wunschkandidaten als Generalmusikdirektor vorzuschlagen.
Die kommende Saison wird also Schulz’ vorletzte Unter den Linden sein – aber er will bis zum Schluss daran weiterarbeiten, das Berliner Traditionshaus zukunftsfest zu machen. Indem er dafür sorgt, dass neben Barenboim und seinen ebenfalls in Ehren ergrauten Künstlerfreunden junge Namen auftauchen. Darin ist er sich mit dem neuen Orchestervorstand einig. Gustavo Gimeno und Cristian Macelaru geben 2022/23 ihre Debüts bei der Staatskapelle, für das Sommerkonzert ist Edward Gardner engagiert, im laufenden Repertoirebetrieb werden 16 verschiedene Dirigenten der jüngeren Generation zu erleben sein – und drei Dirigentinnen.
Er wirbt pro Saison 3,5 Millionen Euro an Drittmitteln ein
Viel Energie und Arbeitszeit hat Matthias Schulz stets in einen Bereich investiert, mit dem man wenig öffentliche Aufmerksamkeit erlangt: die Musikvermittlung. Gerade weil sich die Staatsoper architektonisch als Musentempel präsentiert, ist es dem Intendanten wichtig, Zugänglichkeit für jedermann zu gewährleisten. Dafür akquiriert er pro Spielzeit 3,5 Millionen Euro an Drittmitteln. Die kommen von Hauptförderern wie der Hilti Foundation und BMW, von Projektsponsoren, aber auch von Mäzenen sowie vom Freundeskreis der Staatsoper.
„Ich finde es wichtig, dass sich die Kulturinstitutionen anstrengen, jenseits der Grundversorgung durch den Staat weitere Mittel einzuwerben“, sagt Schulz. „Der Kontakt zu Geldgebern aus der freien Wirtschaft funktioniert aber nur über den Intendanten“ – der sich dafür Zeit nehmen muss: „Es gibt einem niemand einfach Geld, weil man mal vorbeikommt und sagt: Ich habe da ein interessantes Projekt. Erst muss eine persönliche Beziehung aufgebaut werden.“ Was Schulz aber auch Spaß macht. „Ich genieße den Austausch mit spannenden Persönlichkeiten aus Bereichen jenseits der Hochkultur-Blase.“
Das Zusatzgeld fließt dann in die Educationarbeit, in Mitmachprojekte wie das Opernkinderorchester, bei dem die Staatsoper mit allen Berliner Musikschulen zusammenarbeitet, oder in die Kinderopernhäuser, die es mittlerweile in mehreren Bezirken gibt. Aber auch in die Aktion „Staatsoper zum Kinopreis“ und in die digitale Kommunikation. „Was in den sozialen Medien nicht vorkommt, existiert heute nicht für Jugendliche“, weiß der fünffache Familienvater. „Die wollen wir aber ebenfalls anlocken.“