„Nostalgia“ im Kino: Neapel zwischen Hoffnung und Mafia
Wer aus der Altstadt Neapels voller Sehnsucht nach der Frische des Parks von Capodimonte hinausgeht, steht links an der Ausfallstraße plötzlich vor einem Fahrstuhl, der – mit typisch urbaner Geruchsmischung – 22 Meter hinunter auf die Hauptstraße des Stadtteils Sanità fährt. Felice (Pierfrancesco Favino) hat Neapel und die engen Gassen von Sanità 40 Jahren zuvor verlassen, sich in Kairo ein Leben aufgebaut und ist zum Islam konvertiert. Hat irgendwann geheiratet und Geld verdient. Nun ist er zurück.
Mario Martones Spielfilm „Nostalgia“ zeigt einen Mann, dem seine Heimatstadt fremd geworden ist. Mutter Teresa (Aurora Quattrocchi), die Jahrzehnte als Näherin gearbeitet hat, ist alt geworden. Die Wohnung, in der die beiden gewohnt haben, hat sie verkauft und für ein kleines, beengtes Apartment im Erdgeschoss eingetauscht, in dem sich die Möbel stapeln. Felice möchte seine kranke Mutter noch einmal sehen.
Die Vergangenheit muss Felice nicht suchen, sie findet ihn von selbst. Gleich am ersten Abend füllt eine ehemalige Kollegin seiner Mutter einige der Leerstellen, die die Jahre hinterlassen haben. Einige Tage später trifft er im Restaurant zufällig auf Raffaele, einen ehemaligen Vorarbeiter seiner Mutter. Als er ihn später nach einem Jugendfreund fragt, schickt der die Näherinnen in seiner Werkstatt nach Hause und schließt die Fenster, bevor er antwortet. Der Freund ist Anführer einer der kriminellen Clans in Sanità.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.
Der gebürtige Neapolitaner Mario Martone begann Mitte der 1970er Jahre als Theaterregisseur. Seit Anfang der 1990er Jahre wechselt er zwischen Kino und Theater, zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. So entstanden eine Reihe von kluge Solitären, wandlungsfähig, ohne Effekte, oft basierend auf einer literarischen Vorlage.
Während viele seiner Kolleg:innen Arthouseformeln totnudeln, entwickelt Martone ein Kino, das seine Erfahrungen der Schauspielführung und Inszenierung aus dem Theater mit einem eindrucksvollen Gespür für Kinobilder verbindet. Von 2007 bis 2017 leitete er das Teatro Stabile in Turin, eine der wichtigsten Bühnen Italiens. Seither hat sich sein filmisches Werk noch einmal verdichtet. Auch „Nostalgia“ basiert auf einer literarischen Vorlage: dem gleichnamigen Roman des in Neapel geborenen Schriftstellers und ehemaligen Partisanen Ermanno Rea.
Wie Reas Vorlage nutzt Martone die Geschichte des Heimkehrers vor allem, um Neapel und insbesondere das Arbeiterviertel Sanità zu zeigen. Zugleich zieht der Film Lehren aus den Schwächen eines Vorgängers: In „Il sindaco del rione Sanità“ („Der Bürgermeister des Stadtteils Sanità“) erzählte Martone 2019 in stark stilisierter Form die Geschichte eines Camorristas.
Außenperspektive eines Zurückgekehrten
„Nostalgia“ fungiert nun gewissermaßen als Gegenerzählung. Als die Mutter stirbt, lernt Felice den Priester Luigi Rega (Francesco Di Leva) kennen, der den Jugendlichen des Viertels eine Perspektive zu bieten versucht. Das Neapel, das sich Felice in der Begegnung mit Rega eröffnet, ist die Stadt, nach der er sich im Ausland gesehnt hat. Martone stellt die Außenperspektive eines Zurückgekehrten dem alltäglichen Leben zwischen Perspektivlosigkeit und organisierter Kriminalität einerseits und den unermüdlichen Bemühungen von Menschen wie Rega gegenüber.
Ein elegischer Tonfall durchzieht „Nostalgia“, der auf das Prinzip Hoffnung beharrt – selbst in Sanità. Entlang des Plots öffnen sich immer wieder Nischen für Beobachtungen, in denen Martones Erfahrungen im Dokumentarfilm anklingen. Oftmals sind es Szenen alltäglicher Verrichtungen: wenn Felice seine Mutter überzeugt, sich von ihm waschen zu lassen, sein Zusammentreffen mit Raffaele im Restaurant, vor allem aber die Szenen mit den Jugendlichen. Sie gehören zu den stärksten des Films.
Die Handlung hingegen beginnt nach dem Tod der Mutter zu schleifen. „Nostalgia“, der italienische Kandidat für den diesjährigen Auslands-Oscar, hätte davon profitiert, wenn Martone sich stärker von der Vorlage emanzipiert hätte. Dass er im Dokumentarischen immer noch glänzt, hat gerade erst sein Film über den 1994 verstorbenen Komödienschauspieler Massimo Troisi gezeigt, der auf der Berlinale als Special lief.