Florian Neuhaus wird eine echte Alternative
Florian Neuhaus war gut zu hören, obwohl seine Stimme oft ein wenig dünn und brüchig klingt. „Bravo, Mats!“, hallte es durch das leere Tivoli-Stadion von Innsbruck, und dann gab Neuhaus, der jüngste deutsche Feldspieler auf dem Platz, Mats Hummels, dem ältesten, gönnerhaft noch einen Klaps auf die Schulter. An diesem Abend durfte er das.
An einem Abend, der eigentlich im Zeichen der Rückkehrer hätte stehen sollen. Mats Hummels und Thomas Müller gaben am Mittwoch beim 1:1 gegen Dänemark nach zweieinhalbjähriger Pause ihr Comeback in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. „Beide haben auch ein gutes Spiel gemacht“, sagte Bundestrainer Joachim Löw.
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Müller, 31, hatte nach einer knappen Viertelstunde die erste gute Chance zur Führung. Er war gewohnt aktiv und gesprächig, wirkte offensiv aber nicht annähernd so gefährlich wie in den vergangenen beiden Jahren bei den Bayern. „In der Offensive hat man gemerkt, dass die Automatismen und Laufwege noch nicht so drin waren“, erklärte Löw.
Hummels, 32, wiederum spielte als linker Mann in der Dreierkette. Er hinterließ einen stabilen Eindruck, wurde von den Dänen aber auch nur selten geprüft. Beim 1:1 durch Yussuf Poulsen, dem einzigen Schuss der Dänen auf das deutsche Tor, versuchte er mit einer Grätsche noch rettend einzugreifen, kam aber zu spät.
Und so stand der Abend der Rückkehrer vor allem im Zeichen von Florian Neuhaus. Der Mittelfeldspieler von Borussia Mönchengladbach hatte seine Mannschaft nicht nur mit einem Abstaubertor unmittelbar nach der Pause in Führung gebracht hatte. Er war auch sonst die auffälligste Figur auf dem Platz: jederzeit drin im Spiel, überall zu finden und immer aktiv. „Florian ist ein sehr guter Fußballer mit einem guten Auge und einer guten Ballbehandlung“, sagte Löw. „Mit ihm war ich schon auch zufrieden.“
Seit seinem Debüt für die Nationalmannschaft im Oktober ist Neuhaus in immerhin sechs der acht Länderspiele zum Einsatz gekommen, und das 1:0 gegen die Dänen war sein zweites Tor. Trotzdem fliegt der 24-Jährige immer noch unter dem Radar. Von der breiten Öffentlichkeit wird er eher der Fraktion Robin Koch/Jonas Hofmann/Christian Günter zugerechnet; der Gruppe also, die bei jedem der EM-Spiele akut vom Ausschluss aus dem 23-Mann-Kader bedroht ist.
Die Konkurrenz im Mittelfeld ist riesig
Ganz falsch ist das nicht. Aber das liegt bei Florian Neuhaus weniger an seiner Qualität als an seiner Position. Als zentraler Mittelfeldspieler ist er in jenem Mannschaftsteil zu Hause, der bei den Deutschen nominell am stärksten besetzt ist: Mit Joshua Kimmich, Toni Kroos, Ilkay Gündogan, Leon Goretzka, vermutlich Thomas Müller, Kai Havertz und eben Neuhaus gibt es sieben Kandidaten für vier, vielleicht sogar nur drei Plätze.
Löw hofft, „dass die Spieler, die hinten dran sind, den Druck hochhalten und die anderen antreiben“. Neuhaus ist jung und daher froh, überhaupt bei der Nationalmannschaft und der EM dabei sein zu dürfen. Insofern könnte er für diese Rolle geradezu prädestiniert sein. Als Stammkraft für die EM ist er eher nicht vorgesehen. Aber wer weiß schon, wie sich die Dinge entwickeln?
In den seltensten Fällen geht ein Trainer mit derselben Elf aus einem Turnier, mit der er in ein Turnier hineingegangen ist. Auch in der Historie der Nationalmannschaft gibt es genügend Beispiele von Spielern, die scheinbar aus dem Nichts kamen und sich dann mit einem Kickstart weit nach vorne geschoben haben.
Rainer Bonhof zum Beispiel, der bei der WM 1974 anfangs nicht einmal im Kader stand, im Urlaub von seiner Nachnominierung erfuhr, in der Vorrunde keine einzige Minute spielte, aber nach der Niederlage gegen die DDR in die Stammelf aufstieg und im Finale die Vorlage zu Gerd Müllers Siegtreffer gab. Oder Horst Hrubesch, der vor der EM 1980 gerade zwei Länderspiele bestritten hatte und nur durch die Verletzung von Klaus Fischer in den Kader rückte. Im Finale gegen Belgien erzielte er dann beide Tore zum 2:1-Sieg. Es waren seine ersten Treffer für die Nationalmannschaft überhaupt.
Wer wird Überraschungsgast im deutschen Team
Naturgemäß ist es schwierig vorherzusagen, wer in diesem Jahr bei der EM der Überraschungsgast im deutschen Team werden könnte – denn dann wäre es ja keine Überraschung mehr. Aber Neuhaus ist dank seiner Veranlagung auf jeden Fall ein aussichtsreicher Kandidat für diese Rolle. An Joachim Löw soll es nicht scheitern. Der Bundestrainer hat schon vor einigen Monaten gesagt: „Der Florian Neuhaus ist ein Spieler, den ich persönlich schätze.“
Neuhaus bringt das komplette Paket mit, auch wenn sich das immer noch nicht überall herumgesprochen hat. Weil der Gladbacher mit 74 Kilogramm, verteilt auf 1,83 Meter, eher feingliedrig wirkt, gilt er vor allem als offensiv orientierter Mittelfeldspieler. Wer ein bisschen genauer hinschaut, erkennt jedoch auch andere Stärken, die in für eine etwas defensivere Rolle prädestinieren.
Bei Borussia Mönchengladbach hat Neuhaus in den vergangenen Jahren zumeist als Sechser gespielt. Was immer noch verkannt ist: Vor allem in der Balleroberung ist Neuhaus extrem gut. Dabei kommt ihm sein Spielverständnis zugute, das, was in der Fußballsprache, als Vororientierung bezeichnet wird. Neuhaus denkt quasi ein, zwei Züge voraus und ist dadurch in der Lage, sich in eine bessere Position zu bringen als seine Gegenspieler.
„Mein Lieblingsbeispiel ist da Thiago“, hat Neuhaus einmal erzählt. Über den werde immer gesagt: Super-Techniker, aber körperlich noch Luft nach oben. „Ich habe gegen ihn gespielt. Ich hatte kaum einen Gegner, der defensiv in den Zweikämpfen so brutal stark war.“ Vor einem Jahr hat Thiago den FC Bayern verlassen, seitdem ist seine Rolle unbesetzt geblieben. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass der Name Florian Neuhaus immer wieder als möglicher Neuzugang der Bayern genannt wird.