Das Leben bleibt eine Baustelle

Jetzt steht auch vor dem Hamburger Bahnhof ein Baugerüst. Wie sehr der Blick schon abgestumpft ist. Sofort resignieren die Augen. Okay, muss wohl so sein. Ganz normal, dass weit und breit kein Bauarbeiter zu sehen ist. Aber im Inneren der hohen Bahnhofshalle setzt sich das Gerüst fort. Eine Wand aus metallglänzenden Verschalungsplatten schneidet den Raum der Länge nach durch.
Der Architekt Arno Brandlhuber hat mit seinem Büro b+ den monströsen Raumteiler auf die Fluchtlinie der Neubauten gesetzt, die hinter dem Hamburger Bahnhof entstanden sind.

Der Kampf um den städtischen Raum wird härter

„Church for Sale“ – die kompromisslose Ausstellung zum 25-jährigen Bestehen des Museums für die Kunst der Gegenwart ist eine Kooperation mit der Sammlung Haubrok und handelt von dem härter werdenden Kampf um städtischen Raum. Beide Akteure – Museum und Sammler – haben die zunehmende Unwirtlichkeit der Stadt selbst zu spüren bekommen.
„Church for Sale“ heißt die Serie mit Aquarellen des kalifornischen Künstlers Edgar Arceneaux. Farbige Schrifttafeln von Immobilienmaklern hängen so tief, dass man sie im Vorbeifahren aus dem Autofenster lesen könnte. Als Detroit vor dem Bankrott stand, waren sogar die Kirchen zu verkaufen.

Ein Klagegesang von Allen Ginsberg

Den bunten Plakaten sind zwei schwarze Käfige von Tom Burr gegenübergestellt. „Howl“ – die Skulptur zitiert den Klagegesang von Allen Ginsberg. Darin verflucht der Dichter den Moloch, der die Seele auffrisst.
Als der Hamburger Bahnhof 1996 eröffnet wurde, stand das Museum für Gegenwart in städtischer Einöde. Das Gebäude war für die Sammlung Marx saniert worden und schien sich selbst zu genügen.

Mit der Friedrich Christian Flick Collection und der Sanierung der Rieck-Hallen zog die Gegenwart mit ihrer kraftstrotzenden Kunst ins Museum ein. Weil dieses als ehemaliger Bahnhof jedoch auf Bahngelände stand, wurde das Grundstück zusammen mit den Bahnimmobilien verkauft.

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Hinter dem Haus schoss die sogenannte „Europa City“ aus dem Boden, hochpreisige Wohn- und Geschäftshäuser in attraktiver Lage, dicht bei der Kunst. Im Sommer konnte der Abriss der Rieck-Hallen verhindert werden durch ein Memorandum of Understanding, das einen Grundstückstausch vorsieht und noch in die Tat umgesetzt werden muss.

Das Haupthaus ist weiterhin nur gepachtet. „Da gibt es die klare Aussage des BKM aus den zurückliegenden Monaten, dass der Bund sich um die Sicherung des Hauptgebäudes kümmern wird“, sagt Gabriele Knapstein, die Leiterin des Hamburger Bahnhofs.

Verteilungskampf aus anderer Perspektive

Die Sammlung Haubrok wiederum erlebte den Verteilungskampf aus anderer Perspektive. Weil das Bezirksamt Lichtenberg befürchtete, die Kunst könnte das Gewerbe rund um die ehemalige DDR- Fahrbereitschaft vertreiben, wurden Ausstellungen zunächst verboten. Inzwischen einigte man sich auf einen Kompromiss. Die Ausstellungen müssen nun beim Bezirksamt angemeldet werden.
Verkehrte Welt: Die Kunst, die wesentlich zur Anziehungskraft der Stadt beitrug, muss jetzt darum kämpfen, nicht ausgeschlossen zu werden. „Achtung, nicht berühren“, warnt die Aufsicht in der Ausstellung freundlich, als ein Besucher den Schlüsselbund aufheben will, der auf dem Fußboden liegt.

„Passe-Partout“ heißt das Werk des Künstlerduos Claire Fontaine – der Aufschrift am Anhänger zufolge stammt der Generalschlüssel aus Aspen, der reichsten Stadt in den Vereinigten Staaten. Einer Stadt, zu der nicht jeder Zugang hat.

Erde aus Bilbao

Ein paar Schritte weiter stehen vier Big Bags von Santiago Sierra. Der spanische Künstler hat in Bilbao Erde aus einem Stadtentwicklungsgebiet in Transportsäcke füllen lassen. Ursprünglich stellte seine Berliner Galerie KOW vierzig Kubikmeter Erdreich aus, vier Säcke konnten wiedergefunden werden. Hinter der Trennwand aus Verschalungselementen geht es um die individuelle Unbehaustheit.

Die palästinensische Künstlerin Emily Jacir thematisiert das Unwohlsein in der eigenen Haut. Sie wuchs in Saudi-Arabien auf. Ihre Mutter schwärzte regelmäßig die nackte Haut in Modemagazinen, wenn sie zurück nach Riad flog. Emily Jacir hat jetzt auf Pauspapier Arme, Beine, Hals übertragen.

Die schwarzen Gliedmaßen schweben ohne Verbindung zum Körper über das Blatt. Carolyn Lazar und Park McArthur machen Krankheit zum Thema ihrer Kunst und die Perspektivverschiebung, wenn man Hilfe braucht.
In seinem 25. Jahr wirkt der Hamburger Bahnhof selbst fragil.

[Bis 19. Juni 2022 im Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50-51, Di bis Fr, 10 bis 18 Uhr, Sa/So ab 11 Uhr]

Friedrich Christian Flick hat seine Sammlung abgezogen, dem Museum aber im Laufe der Jahre 268 Schenkungen überlassen. Gabriele Knapstein will trotz des geringen Ankaufsetats das Haus in ein „sammelndes Museum“ umgestalten. „Nachhaltige Museumsarbeit“, sagt sie, „besteht darin, große, gewichtige Bestände vor Ort zur Verfügung zu haben, damit zu arbeiten und dann gezielt Leihgaben dazuzunehmen.“

Werke aus Mittel- und Südamerika kamen hinzu

In den vergangenen Jahren hat der Hamburger Bahnhof seine Perspektive über den westlichen Horizont hinaus erweitert. Jeweils ein Mitglied in der Ankaufskommission der Stiftung der Freunde der Nationalgalerie für zeitgenössische Kunst kommt aus einer anderen Region der Welt. Zuletzt war das Augustín Pérez Rubio aus dem Kurator*innen-Team der Berlin Biennale. Mithilfe der Stiftung konnten sieben Werke aus Mittel- und Südamerika angekauft werden.
Auch bei den Ausstellungen standen Allianzen, Netzwerke und Kollaborationen im Fokus. In „Hello World“ ging das Museum den Künstler-Verbindungen aus der Sammlung in die Welt nach. „Nation, Narration, Narcosis“, die Schau, die parallel zur Jubiläumsausstellung läuft, stellt die Fortsetzung dar, die Kooperation mit drei Museen in Asien.

Die Rolle der neuen Direktoren Till Fellrath und Sam Badaouil, die im Januar ihr Amt antreten, muss wohl noch definiert werden. In Berlin haben die beiden 2019 die Schau „Durch Mauern gehen“ im Gropius Bau kuratiert. Überraschend war allerdings, wie schnell Personalien vor den Wahlen entschieden werden konnten, während die Eigentumsverhältnisse noch in der Schwebe hängen.