Der feministische Horrorfilm „Titane“ schockt den Wettbewerb

In diesem Jahr ist der Jury-Vorsitzende Spike Lee, der 2019 mit “BlacKkKlansman” in Cannes den Großen Preis der Jury gewann, auf der Croisette allgegenwärtig. Sein Mars Blackmon aus „She’s Gotta Have It“ ziert das offizielle Festivalplakat, dazu macht er Werbung für den Luxusartikelhersteller Montblanc. Fast erscheint es, als wolle Cannes überkompensieren, woran das Festival seit über 30 Jahren laboriert. 1986 feierte Lee die Weltpremiere von „She’s Gotta Have It“ in der Reihe Quinzaine des Réalisateurs – der Beginn des New Black Cinema.

Drei Jahre später verlor „Do the Right Thing“ als heimlicher Favorit im Rennen um die Goldene Palme gegen Steven Soderberghs Debüt „Sex, Lügen und Video“. Es mutet befremdlich an, wie stolz Thierry Frémaux dieser Tage betont, dass mit Lee erstmals ein schwarzer Regisseur als Jury-Präsident fungiert – im Jahr 2021. Spike Lee war bereits früh ein perfekter Werbeträger, seine Nike-Clips mit Michael Jordan („It’s Gotta be the Shoes!“) sind kulturelle Meilensteine. In diesem Jahr präsentiert Nike die Edition Air Jordan Spiz’ike exklusiv an der Croisette. Aber Lee als Gesicht für die neue Diversität von Cannes wirkt dann doch allzu durchschaubar.

Vielleicht aber kann Spike Lee, der seinem sexistischen Debüt gerade auf Netflix einen feministischen Dreh gab, mit einer mehrheitlich weiblichen Jury ein anderes Cannes-Problem lösen: die überfällige zweite Goldene Palme für eine Regisseurin. Man würde ja zu gerne wissen, was er über Julia Ducournaus Körperhorrorschocker „Titane“ denkt, der Dienstagnacht das Publikum schwer polarisierte.

Bondage-Sex mit einem Auto

Ducournau debütierte 2016 in Cannes mit dem kannibalistischen Liebesfilm „Grave“, doch der Nachfolger ist noch mal ein ganz anderes Biest – aus Metall, Motorenöl und notdürftig zusammengehalten von ausgemergelter, mürber Haut, die sich allmählich zum Zerreißen spannt.

Das französische Model Agathe Rousselle liefert eine Tour de Force als junge Frau, die nach einem schweren Autounfall von ihrem Vater (der Regisseur Bertrand Bonello) eine Titanplatte in den Schädel implantiert bekommen hat. Ihrer Liebe zu Autos tut das keinen Abbruch: Alexia tanzt halbnackt auf Motorhauben und hat auf dem Rücksitz eines Amischlittens Bondage-Sex mit sich selbst. Oder doch mit dem Wagen? Nebenbei schlachtet sie jeden ab, der oder die ihr zu nahe kommt.

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Auf ihrer Flucht nimmt sie die Identität eines zehn Jahre zuvor verschwundenen Jungen an, dessen Vater (Vincent Lindon), ein Feuerwehrmann, seine gequälte Männlichkeit mit Hormonspritzen und Rettungseinsätzen um Leben und Tod aufpäppelt. Er nähert sich der sprachlosen Frau, deren Körper immer drastischere Veränderungen durchläuft, mit einer Mischung aus väterlicher Liebe und roher Verletzlichkeit. „Mir ist egal, wer du bist“, sagt er, als er zu ahnen beginnt, dass aus dieser Metamorphose ein nicht nur humanes Wesen hervorgehen wird.

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Asghar Farhadi hat wieder im Iran gedreht

So verstörend und provokant Ducournaus Film wirkt, die Schocks dienen der Regisseurin nie als Selbstzweck. „Titane“ ist ein radikales Werk, das die Konventionen von Genre- und Arthousekino (sowie Genderzuschreibungen) neu kalibriert. Und es sprengt alle gängigen Kriterien der Filmkritik, so dass eine Jury den Film eigentlich unmöglich – wie vor 30 Jahren „Do the Right Thing“ – ignorieren kann.

Im Wettbewerb laufen aber auch genug Filme, auf die man sich problemlos einigen könnte. Dazu gehört „A Hero” vom zweifachen Oscar-Preisträger Asghar Farhadi, wieder klassisch iranisches Kino nach zwei europäischen Produktionen. Ein alleinerziehender Vater (Amir Jadidi) will Gutes tun, scheitert aber an seiner Unzulänglichkeit und den Moralvorstellungen seiner Heimat.

Rahim sitzt wegen Schulden im Gefängnis, eine verlorene Handtasche mit Goldmünzen könnte seine Rettung bedeuten. Doch er meldet den Fund und wird für seine Ehrlichkeit von den Medien gefeiert – bis eine winzige Notlüge einen Shitstorm in den sozialen Netzwerken auslöst. Eine meisterlich konstruierte Tragödie wie „A Hero“ haut der Routinier Farhadi inzwischen vermutlich im Schlaf raus. Aber es stellt sich eben auch die Frage, in welche Richtung das Kino nach der Zäsur Pandemie will. Eine Antwort finden wir möglicherweise eher bei Julia Ducournau.