Die Kraft des Kollektivs
Als Zar Peter am Ende des 17. Jahrhunderts von seiner Großen Gesandtschaft aus Westeuropa nach Russland zurückkehrte, befahl er seinen Bojaren, sich die Bärte abzuschneiden. Hernach zwang er sie in seine neue Hauptstadt am Newa- Ufer. St. Petersburg hatte Peter als Fenster nach Westen konzipiert. Mit der Tradition hielt es dieser Zar nicht so sehr.
Spätestens seit jener Zeit erhitzen sich die russischen Intellektuellen an der Frage: Wer oder was ist ein Russe? Worauf soll sich die nationale Identität gründen? Ist die „russische Seele“ mehr als ein kitschbeladener Mythos? Das Thema ist Gegenstand zahlloser Essays, in allen Gattungen der Kunst ist der Streit immer wieder ausgetragen worden.
Denkschablone zugunsten der Slawophilen
Drei Lager befehden sich da: die Westler, die Eurasier und die Slawophilen. Nun entscheidet die Staatsmacht diesen Streit offensichtlich mit der Herstellung einer Denkschablone zugunsten der Slawophilen. Zu Wochenanfang gab das russische Kulturministerium entsprechende Richtlinien zu Protokoll.
Ministerin Olga Ljubimowa war zuvor von Präsident Wladimir Putin empfangen worden, so dass man davon ausgehen kann, es handelt sich bei dem Dokument nicht um die tausendste Diskussionsgrundlage.
Eine echte Erörterung scheint auch niemand zu erwarten. Am 21. Januar ist online ein Forum für Meinungsbeiträge zum Präsidentenprojekt „Grundlagen der Staatspolitik zur Wahrung und Festigung traditioneller russischer ethisch-moralischer Werte“ eröffnet worden. Am 4. Februar wird die Meinungsbildung abgeschlossen sein, schreiben Moskauer Medien. Im Mai soll Putin den Ukas erlassen.
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Die oppositionelle Online-Plattform „Meduza“ hat die Leitlinien aus dem Ministerium zu einer handlichen Liste eingedampft – zum abhaken, gewissermaßen. Sie beginnt mit den Werten, die die russische Gesellschaft ausmachen: Nach Leben und Ehre stehen da gleich zu Beginn Menschenrechte und Freiheiten. Die Worte müssen jedem wie Hohn vorkommen, der ein vom Kreml abweichendes Verständnis von Menschenrechten und Freiheiten hat.
Wie der Oppositionelle Alexej Nawalny, der inzwischen das erste Jahr seiner Haft im Straflager abgesessen hat. Grotesk wirkt es angesichts der russischen Lebenswirklichkeit, einer zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich, auch, wenn die „die Priorität des Geistigen über das Materielle“ postuliert wird.
Der Kulturministerium hat Werte identifiziert
Als Ideen und Werte, die den Russen „zerstörerisch und fremd“ sind, hat das Kulturministerium unter anderem identifiziert: den Kult des Egoismus, die Leugnung der Ideale des Patriotismus, des Dienstes am Vaterland, des positiven Beitrags Russlands zur Weltgeschichte und zur Kultur.
Die russischen Werte sind bedroht. Da sind die extremistischen und terroristischen Organisationen. Die Menschenrechtsorganisation „Memorial“, kann unter diese Kategorie nicht mehr fallen. Die hat ein Moskauer Gericht Ende letzten Jahres verboten. Aber da sind auch noch die USA und ihre Verbündeten, die transnationalen Konzerne und die zivilgesellschaftlichen Organisationen aus dem Ausland, listet „Meduza“ aus dem Papier des Kulturministeriums auf.
Boris Jelzin hat sich auch schon dran versucht
Die Zusammenstellung erinnert an die Triade des Puschkin-Zensors Sergej Uwarow, der auch Erziehungsminister war. Rechtgläubigkeit, Selbstherrschaft und Volksverbundenheit, hatte der im 19. Jahrhundert zu den Grundlagen des russischen Staatswesens erklärt. So ähnlich liest man es jetzt wieder.
Bereits Putins Vorgänger Boris Jelzin hatte sich an der Bestimmung der Werte und der Identität Russlands versucht. 1996, am Beginn der katastrophalen Phase seiner Amtszeit, hatte der damalige Präsident eine „nationale Idee“ gefordert, und sich kurz darauf korrigiert: „Nein, national klingt schlecht, eine Idee für Russland tut not.“ Fast die gesamte Elite der russischen Geisteswissenschaften machten sich damals an die Arbeit – und konnte sich nicht einigen.
Ein Preisausschreiben für Russland
Gegen Ende von Jelzins Amtszeit veranstaltete die nationalistische „Rossiskaja Gazeta“ dann ein Preisausschreiben zu einer „Idee für Russland“. Es gewann Gurij Sudakow, Professor für Geschichte im nordwestrussischen Wologda. Sudakows Russentum war als Gegenstück zum westlichen Individualismus konzipiert – und voller Klischees. Zu Sentimentalitäten haben sich die Vordenker in Putins Kulturministerium jetzt nicht hinreißen lassen.
Aber Parallelen zu den Gedanken, die der Provinzprofessor vor mehr als 20 Jahren niederschrieb, sind offensichtlich. So meinte schon Sudakow, anders als die Menschen im Westen würden Russen zuerst aufopferungsvoll fürs Vaterland arbeiten. Kraft schöpfe der russische Mensch nicht aus sich selbst, sondern aus dem Kollektiv. Über die Gedankenspiele des Professors hinausgehend sollen jetzt dem Ukas des Präsidenten konkrete Gesetze folgen.