Im Speckgürtel von Hollywood
Für einen 15-jährigen Kinderstar im kalifornischen San Fernando Valley ist Hollywood mindestens so weit entfernt wie die Welt der Erwachsenen. Es gehört schon eine gehörige Chuzpe dazu, diese Diskrepanz zu ignorieren. Wohl nur Jugendliche, die gerne mal Erwachsene spielen, können sich mit so einer Selbstverständlichkeit wie der Teenager Gary Valentine durch die Pubertät manövrieren.
Gary (Cooper Hoffman) hat schon als Kind in einer Familien-Sitcom mitgespielt. Seine Mutter übernimmt die Aufgaben seiner Agentin, und im noblen Restaurant in der Vorort-Einöde von Los Angeles begrüßt man ihn überschwänglich mit Namen. Aber dann wird in Paul Thomas Andersons Siebziger-Jahre-Fantasie „Licorice Pizza“, benannt nach einem Plattenladen, auch viel gelaufen, weil Los Angeles eben für Autos gebaut wurde – und man als selbsterklärter Kinderstar ohne Führerschein keine Extrawurst bekommt. Doch eines weiß Gary Valentine, übrigens kein Künstlername, schon ganz am Anfang. „Ich habe heute die Frau getroffen, die ich heiraten werde!“
Von dieser Selbstverständlichkeit kann Alana, gespielt von Alana Haim, der jüngsten Schwester der kalifornischen Softrockband Haim (die mit ihrem Retrosound zwischen Stevie Nicks, Belinda Carlisle und Bonnie Raitt im Popgeschäft selbst eine sympathische Siebziger-Fantasie darstellt) nur träumen. Sie hangelt sich mit Gelegenheitsjob durchs Leben, sucht nach einem tieferen Sinn und lebt mit ihren jüngeren Geschwistern Este und Danielle noch bei den Eltern – alle gespielt von der echten Haim-Familie. Letzteres stellt insofern ein Problem dar, als Alana schon 25 ist. Nicht allerdings für Gary, der sie auf dem Schulhof, wo sie als Foto-Assistentin für das Jahrgangsfoto jobbt, einfach anquatscht – und fortan nicht mehr von ihrer Seite weicht.
Diese erste Begegnung, eine lange Plansequenz, in der Gary bei ihrem energischen Marsch über den Schulhof um Alana herumscharwenzelt, wird gewissermaßen zum Muster von „Licorice Pizza“, der über knapp zweieinhalb Stunden nur selten stehen bleibt. Nicht immer weisen die Bewegungen des Films in eine Richtung: Manchmal dreht sich die Handlung im Kreis – wie auch die komische Freundschaft zwischen Alana und dem 15-jährigen Riesenbaby mit seiner leuchtenden Akne –, sie mäandert oder fällt in einen hypnotischen Fluss, in dem die Zeit kurz auszusetzen scheint.
Auotenfilmer mit genialem Ruf
Das einstige Hollywood-Wunderkind Paul Thomas Anderson, inzwischen ein Autorenfilmer, dem der Ruf eines kleinen Genies anhängt, hat für die Band Haim schon ein paar Musikvideos gedreht, in denen die drei Schwestern viel zu Fuß unterwegs sind – ein Markenzeichen, mit dem man als gebürtige Los Angelinas durchaus aus der Rolle fällt. In „Licorice Pizza“ erfüllt die Erzählform der Kamerafahrt (geführt von Anderson selbst) aber zweierlei: die Rastlosigkeit eines Alters, in dem einem die Welt vermeintlich noch offen steht (Gary) und die Sorge, schon irgendwo ankommen zu müssen (Alana).
Gary ist ein Hustler. Ein charismatischer Entrepreneur, der, als ein Wachstumsschub ihn quasi über Nacht um seine Karriere als Kinderstar bringt, ein Geschäft für Wasserbetten gründet. Und der später, als die Ölkrise von 1973 den Rohstoffnachschub für Plastik beeinträchtigt, einfach auf Flipperautomaten umsteigt.
Die ziellose Alana beobachtet diesen Hans-Dampf-in-allen-Gassen in seinem Erwachsenenanzug und wundert sich mehr als einmal, warum sie ihre Zeit mit einem Haufen pubertierender Kinder verbringt. Dass einem beim Zuschauen solche Gedanken nie kommen, liegt an der Chemie zwischen Haim und Hoffman, dem Sohn des 2014 gestorbenen Philip Seymour Hoffman (wiederum ein Freund und Wegbegleiter des Regisseurs). Ihr Naturalismus, beide in ihren Debütrollen, tröstet auch über so manche Drehbuch-Irritation hinweg.
Eitle Cameos von Sean Penn und Tom Waits
Das anstrengungslose Spiel seiner Jungstars unterminiert Anderson selbst immer wieder mit lärmigen, eitlen Cameos von Sean Penn, Tom Waits und Bradley Cooper (als fiktive Version des ehemaligen Promifriseurs und späteren Produzenten Jon Peters), die wohl die Zugehörigkeit des genialen Regisseurs, überaus erfolgreich am Rande Hollywoods, zu einer Kaste von ähnlich denkenden Mavericks demonstrieren sollen.
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Schon seine früheren Hauptdarsteller Joaquin Phoenix („The Master“) und Daniel Day-Lewis („There Will Be Blood“) fielen in diese Kategorie eigenwilliger Stars. Anderson möchte dazugehören und gleichzeitig beweisen, wie unabhängig er von Industrie-Mechanismen ist. Ein kleiner Film wie „Licorice Pizza“ hätte solche übertriebenen Gesten gar nicht nötig.
(In 15 Berliner Kinos, auch OV/OmU)
Manchmal erweist sich die Nostalgie auch als schlechter Ratgeber – ein gerade unter Regisseuren (selbst einem Richard Linklater, an den „Licorice Pizza“ am ehesten erinnert) weit verbreiteter Kardinalfehler. Andersons Zeitkolorit spielt ironisch mit dem Umgangston in den Siebzigern – dem Sexismus (Alanas Chef haut ihr beim Vorbeigehen auf den Hintern), dem latenten Rassismus (es gibt ein paar selten dämliche Witze über Asiaten). Aber zu mehr als einem wissenden Lacher kann sich der Film am Ende nicht aufschwingen. Man könnte es als einen Konstruktionsfehler männlicher Nostalgie abtun, wenn wenigstens die Figuren über dieses Bewusstseinsstadium hinausweisen würden.
Doch Andersons Interesse gilt vor allem dem umtriebigen Gary, der schon im Teenageralter an seiner Legende strickt. Alana Haim kann zwar auf die denkwürdigste Weise die Augen verdrehen; sie scheint lange nicht nur die mit dem Führerschein zu sein, sondern auch in dieser Freundschaft hinter dem Lenkrad zu sitzen. Nur läuft ihre Sinnsuche immer wieder ins Leere, während noch die beknackteste Idee Garys wie ein Junggeniestreich gefeiert wird.
Alana darf in vielen Szenen vor allem gut aussehen – und gibt schließlich sogar genervt Garys Wunsch nach, dem notgeilen Pubertier ihre Brüste zu zeigen (der Kamera abgewandt). Dabei gehört Alana Haim der größte Moment des Films. Sie lenkt einen Möbeltransporter auf einer nächtlichen Flucht die Hügel von Los Angeles hinunter, rückwärts, ohne Benzin. Die Actionszene des Jahres ist mucksmäuschenstill.