Ausstellung „1923: Gesichter einer Zeit“ in Hamburg: Der Krieg ist vorbei, genießen wir die Inflation
Ein „tolles Jahr“, das „erregendste von vielen aufregenden Jahren“, das Deutschland durchlebt habe. So hat Sebastian Haffner das Jahr 1923 in seinen Erinnerungen genannt. Was der Publizist damit meinte: Es war eine Zeit wie im Tollhaus. Französische und belgische Truppen besetzten das Ruhrgebiet. Hitler scheiterte mit seinem Putsch in München. Vor allem aber ließ die Hyperinflation nicht nur die Währung, sondern alle Werte rasant verfallen. Wer tugendhaft gespart hatte, verlor alles. Schuldner und Schieber triumphierten. Milliardäre hungerten.
„Der blutige Aufruhr des Krieges ist vorbei: Genießen wir den Karneval der Inflation.“ Dieses Zitat von Klaus Mann prangt derzeit an einer Wand der Hamburger Kunsthalle. Es könnte das Motto zu der Ausstellung „1923: Gesichter einer Zeit“ sein, die demonstriert, dass in dem sogenannten Schicksalsjahr viele herausragende Kunstwerke entstanden sind. Klaus Mann, damals 18 Jahre alt und angehender Schriftsteller, verspottete die Krise: „Es ist eine Menge Spaß und Papier, bedrucktes Papier, schwaches Zeug – nennen sie es immer noch Geld? Für fünf Milliarden davon kann man einen Dollar bekommen. Was für ein Witz!“.
Die Ausstellung beginnt mit einer Art Nachrichtenwand, auf der Fotos und Texte zu einer Chronik versammelt sind. Ein französischer Soldat bewacht einen Kohlenzug im Ruhrgebiet. Lange Schlangen vor einer Berliner Bäckerei. Kinder spielen mit wertlosem Papiergeldstapeln. Verwüstete Straßen in Barmbek nach dem Hamburger Aufstand. Bewaffnete Putschisten in München.
Die Inflation galoppierte auch deshalb, weil die Regierung immer mehr Geld in Umlauf brachte, um Reparationen zu zahlen und den passiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung zu finanzieren. Ein Teufelskreis, der erst mit der Einführung der Rentenmark im November endete. Die junge Republik, attackierte von Rechts- und Linksextremen, taumelte. Aber sie ging nicht unter.
„Deutschlands Kinder hungern!“ steht auf einem Plakat, das Käthe Kollwitz im Dezember 1923 im Auftrag der Internationalen Arbeiterhilfe entwarf. In der Ausstellung ist eine Kreidelithographie zu sehen, die auf dem Plakat basiert. Dichtgedrängt belagern Kleinkinder eine Essensausgabe und recken leere Schüsseln in die Höhe. Die Verelendung wuchs, sie zeigte sich auch in der steigenden Zahl von Prostituierten. Auf Elfriede Lohse-Wächtlers Aquarell „Liebespaar“ wird eine junge Frau von einem Mann in einem Wohn- und Schlafzimmer bedrängt, der ein Freier sein könnte.
Eindeutiger ist der Fall bei Otto Dix‘ Lithographie „Nächtliche Erscheinung“. Im schädelartigen Gesicht einer mit Federhut aufgedonnerten Hure scheint bereits der Tod zu nisten, ein Verweis auf die grassierende Syphilis. Neben vielen Verlierern produzierte die Inflation auch Gewinner in Form von Spekulanten, die im Volksmund „Raffkes“ genannt wurden.
George Grosz hat ein seiner Graphikmappe „Ecce Homo“ einige von ihnen karikiert, einen Zylinderträger mit Zigarillo in einer Bar oder einen stiernackigen Herrenmenschen bei einer Prostituierten. Daneben sieht man bettelnde Kriegsveteranen und ausgemergelte Proletarier. Der zugespitzte Realismus stieß auf Widerstand. Grosz und seine Verleger wurden wegen der Verbreitung „unzüchtiger Darstellungen“ angeklagt und zu Geldstrafen verurteilt. Fünf Druckplatten mussten unbrauchbar gemacht werden.
Den Anstoß zur Hamburger Ausstellung gab der hundertste Geburtstag des Vereins Freunde der Kunsthalle. Zu sehen sind rund sechzig Gemälde, Skulpturen und Arbeiten auf Papier aus den Beständen der Kunsthalle, von denen viele bereits in der Ära des Direktors Gustav Pauli erworben worden waren. Wegen seines Engagements für die Moderne wurde er 1933 von den Nationalsozialisten entlassen.
Es war eine kluge Entscheidung der Kuratoren Juliane Au, Karin Schick und Andreas Stolzenburg, die meisten Exponate in den Sammlungsrundgang der Klassischen Moderne zu integrieren, markiert mit roten Texttafeln. Sie bekommen einen Platz in die Kunstgeschichte und ragen gleichzeitig aus ihr heraus.
So hängt Ernst Ludwig Kirchners 1923 entstandenes Gemälde „Das Wohnzimmer“ nun inmitten von Landschaften seiner einstigen Kollegen Heckel, Schmidt-Rottluff und Nolde aus der „Brücke“-Expressionistengruppe. Kirchner hat sich mit schweflig grünem Gesicht bei Frau und Kind in seinem Haus in Davos dargestellt, in das er sich nach einem Nervenzusammenbruch im Ersten Weltkrieg zurückgezogen hatte. Die Schrecken der Vergangenheit ließen ihn nicht mehr los, darunter litten viele Kriegsveteranen.
Ein paar Schritte weiter steht Rudolf Bellings „Skulptur 23“, ein futuristischer Roboterkopf aus hochglanzpoliertem Messing, zusammengesetzt aus einfachen geometrischen Formen. Wegen Materialknappheit war er zunächst aus Gips gefertigt worden. Daneben hängt ein elegantes Art-Deco-Porträt von Anita Rée, auf dem eine junge Frau mit den Früchten eines Feigenkaktus zu verschmelzen scheint.
Die jüdische Avantgardistin, die sich 1933 das Leben nahm, war vor wenigen Jahren mit einer Retrospektive in der Hamburger Kunsthalle wiederentdeckt worden. In der aktuellen Ausstellung ist sie mit gleich drei Bildern vertreten. Auf ihrem an der italienischen Amalfiküste entstandenen Landschaftsgemälde „Weiße Nussbäume“ scheinen alle Wege in einen Abgrund zu führen.
Manche Bilder scheinen ihrer Zeit voraus gewesen zu sein. Auf Otto Tetjus Tügels großformatigem Gruppenporträt „Die Kommission des Hamburger Künstlerfestes“ sitzen Männer in zerfließenden Konturen wie in einem Aquarium. Die verschwommene Malweise ähnelt den verrätselten spätsurrealistischen Nachkriegsabstraktionen von Richard Oelze und Wols, mit denen es nun in einem Saal zu sehen ist. Gefeiert wurde im Krisenjahr 1923 wohl heftig. „Nichts gegen die Künstlerfeste jener Jahre!“, wird der Schriftsteller Hans Henny Jahn auf der Museumswand zitiert. „So viel Freiheit, wie damals verbraucht wurde, gibt es auf dem ganzen Erdenrund nicht mehr.“
1923 war ein Jahr, in dem sich viele Stilrichtungen kreuzten: Neue Sachlichkeit, Spätexpressionismus, Konstruktivismus, beginnender Surrealismus und der Funktionalismus des Bauhauses. Kuratorin Karin Schick spricht von einer „fantastischen Polystilistik“. In einem Saal der Ausstellung, in der nur Kunstwerke von 1923 versammelt sind, treffen Karl Hofers maskenhafte, einander innig umarmende „Freundinnen“ auf Lovis Corinths heiter lächelnde „Flora“ und Abstraktionen von Wassily Kandinsky, Walter Dexel und Willi Baumeister.
Mittendrin steht die Kleinplastik eines Fußballers von der Berliner Bildhauerin Renée Sintenis. Gerade hat er kraftvoll geschossen, der Ball ist wohl auf dem Weg ins Tor. Die Begeisterung für Sport, Kino und Konzerte war groß, in Zeiten von Armut und Arbeitslosigkeit dürsten die Menschen nach Ablenkung. „Man tanzte Foxtrott, Shimmy, Tango. Man tanzte Hunger und Hysterie, Angst und Gier, Panik und Entsetzen“, schrieb Klaus Mann.