Wieder mehr Bierhoff wagen
Hansi Flick hat am Dienstag in München eine Menge Spaß gehabt. Im Nations-League-Spiel gegen England sah der Bundestrainer vieles von dem umgesetzt, was er der deutschen Fußball-Nationalmannschaft vorab mit auf den Weg gegeben hatte. Auch die kleine, fast unscheinbare Szene Mitte der ersten Halbzeit dürfte ihm gefallen haben, selbst wenn sie für den weiteren Verlauf des Spiels von eher untergeordneter Bedeutung war.
Es ging um ein profanes Kopfballduell in Höhe der Mittellinie. Auf den ersten Blick begegneten sich zwei Duellanten aus unterschiedlichen Gewichtsklassen. Zum einen der eher feingliedrige Kai Havertz, seiner äußeren Erscheinung nach eher Hemd als Held. Zum anderen der englische Innenverteidiger Harry Maguire, ein echter Brocken, 1,94 Meter groß, 97 Kilogramm schwer, Schultern wie ein Ochse.
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Beide stiegen in die Höhe – und am Ende war es Havertz, der den Ball erwischte und ihn in die englische Hälfte weiterleitete. „Das macht einfach Spaß, das zu sehen“, sagte Flick.
Vor allem, weil Havertz bei ihm eine Rolle spielt, in der er es häufiger mit Hünen wie Maguire zu tun bekommt. Eine Rolle, die dem Mittelfeldspieler vom FC Chelsea nicht unbedingt auf den Leib geschneidert ist. Doch Havertz war von Flick in vorderster Linie aufgeboten worden, weil es auf dieser Position weiterhin an geeigneten Bewerbern fehlt.
Die Debatte über den Mangel an passenden Stürmern verfolgt die Nationalmannschaft seit Jahren. Nicht erst Flick, auch sein Vorgänger Joachim Löw sah sich häufiger zur Improvisation gezwungen. Ein klassischer Mittelstürmer, der seine Tauglichkeit für das allerhöchste Niveau bereits verlässlich nachgewiesen hat, einer wie Harry Kane am Dienstag bei den Engländern, den hat der deutsche Fußball aktuell nun mal nicht im Portfolio.
Jemand wie Harry Kane, das wär’s
„Wir brauchen uns nicht zu verstecken. Mit dem Gesamtpaket in der Offensive sind wir froh und happy“, sagt Flick über die Situation in der Offensive und lobt „die Flexibilität und Variabilität, die wir im Kader haben“. In der Tat kann er für die Besetzung im Sturm auf unterschiedliche Typen zurückgreifen. Da gibt es neben dem falschen Neuner Havertz noch Timo Werner, der mit seiner Schnelligkeit am liebsten die Tiefe sucht, aber auch viel grüne Wiese vor sich braucht, um seine Stärken ausspielen zu können.
Serge Gnabry wäre ebenfalls zu nennen, der zwar vornehmlich auf dem Flügel zum Einsatz kommt, sich grundsätzlich aber auch die Rolle des Mittelstürmers zutraut. Sein Einsatz an diesem Samstag in Budapest, im Nations-League-Spiel gegen Ungarn (20.45 Uhr/RTL), ist allerdings fraglich. Gnabry leidet unter muskulären Problemen in der Wade.
In Flicks Aufgebot für die letzten vier Spiele dieser Saison finden sich außerdem zwei Auszubildende, die noch dabei sind, sich an das internationale Niveau heranzutasten: Karim Adeyemi, 20 Jahre alt, und Lukas Nmecha, 23. Für Adeyemi, der in diesem Sommer aus Salzburg zu Borussia Dortmund wechselt, fand sich in den bisherigen beiden Nations-League-Duellen gegen Italien und England nicht einmal ein Platz im Kader.
„Er hat eine unglaubliche Entwicklung hinter sich, aber natürlich auch noch vor sich“, sagt Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft. „Er hat gerade im Angriff große Konkurrenz, gegen die er sich durchsetzen muss.“
Selbst Lukas Nmecha steht in der Hierarchie einen halben Schritt über ihm. Der Wolfsburger, vor einem Jahr mit der U 21 Europameister, stand gegen Italien und England immerhin im Kader; gespielt aber hat auch er noch keine einzige Minute. „Lukas ist ein Spieler, der ein bisschen anders ist als die zentralen Stürmer, die wir bei uns im Kader haben“, sagt Flick.
Nmecha kommt dem klassischen Mittelstürmer schon von seiner Statur her am nächsten. Er habe ein gutes Tempo, könne den Gegner unter Druck setzen, verfüge aber auch vor dem Tor über Qualität. „Er hat in dieser Woche in den Trainingseinheiten sehr viele Tore gemacht“, sagt Flick. „Er hat gezeigt, dass er eventuell eine Option sein kann.“
Die Zocker sind nicht abgezockt genug
Das mit dem Toreschießen spricht zumindest für ihn, denn daran hapert es bei den Deutschen erkennbar. In den jüngsten drei Spielen gelang ihnen jeweils nur ein Treffer, obwohl es, gemessen an der Zahl der Chancen, deutlich mehr hätten sein können und müssen. „Wir haben sehr gut gezockt teilweise“, hat Flick nach dem Spiel gegen die Engländer gesagt.
Es war als Lob gemeint aber es wirkte wie vergiftet. Denn das Phänomen, dass die Deutschen vor lauter Spaß am Spiel, dessen eigentlichen Zweck aus den Augen verlieren, ist nicht ganz neu.
„Dass wir noch nicht effektiv genug sind, das begleitet uns schon eine Zeitlang“, sagt Oliver Bierhoff, der in einer Zeit Spieler war, in der die Deutschen im Fußball wenig mehr vorzuweisen hatten als eine fast schon beängstigende Effektivität. Seitdem haben sich die Prioritäten deutlich verschoben.
„Wir haben viel am Spaß und an der Freude gearbeitet“, erklärt Bierhoff das Ausbildungskonzept des DFB, das inzwischen auch schon mehr als 20 Jahre alt ist. „Das hat dazu geführt, dass wir an der einen oder anderen Stelle zu verspielt sind und nicht wie früher nüchtern und effektiv.“
Dass man keine Füße aus Brasilien haben muss, um es als Fußballer weit zu bringen, dass manchmal selbst Füße aus Malta reichen, dafür ist Oliver Bierhoff schließlich das beste Beispiel. Und inzwischen wären sie bei der Nationalmannschaft gerne wieder ein bisschen mehr Bierhoff: zielstrebig, abschlussstark, durchsetzungsfähig. Vor allem mit Blick auf die WM am Ende des Jahres. Oliver Bierhoff sagt: „Das wird ein ganz wichtiger Punkt beim Turnier sein.“