Bilder aus dem Ukraine-Krieg im Kino
Die mahnenden Worte von Jury-Präsident Vincent Lindon, dass ein Filmfestival dieser Tagen mit den Bilder aus einem realen Krieg konkurrieren (und sich dazu verhalten) muss, hallen noch durch die erste Woche, da hat der Ukrainekrieg das Kino auch auf der Leinwand erreicht.
Nur wenige Tage vor Festivalbeginn wurde der Dokumentarfilm „Mariupolis 2“ des litauischen Regisseurs – und selbsterklärten „Feldforschers“ – Mantas Kvedaravičius für die offizielle Auswahl nachnominiert. Es ist sein vierter und letzter Film. Kvedaravicius wurde während der Dreharbeiten in der ukrainischen Hafenstadt Anfang April mutmaßlich von russischen Soldaten erschossen.
Freundin Hanna Bilobrova stellte den Film fertig
„Mariupolis 2“, fertiggestellt von seiner ukrainischen Partnerin Hanna Bilobrova, wird in Cannes zugleich als Requiem für den mit 45 Jahren verstorbenen Filmemacher wie auch als eine Art filmischer Flaschenpost aus einer belagerten Stadt präsentiert. Dienstagabend donnerte als Empfangskomitee für Tom Cruise eine Fliegerstaffel über die Stadt; Kvedaravičius Bilder sind unterlegt mit dem unaufhörlichen Donnern der Einschläge aus russischer Artillerie. Lindon hat recht, wenn er impliziert, dass das Kino mit diesen Aufnahmen nicht konkurrieren kann. „Mariupolis 2“ zeigt aber auch, dass in genau diesem Handicap eine Stärke liegen kann.
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Wo die Nachrichtenbilder aus der zerstörten Ukraine längst allgegenwärtig sind, schafft es das Kino, wenn es so schnell reagiert wie im Fall von „Mariupolis 2“, dem Krieg bereits eine historische Perspektive zu verleihen. (Und kein Ereignis vermag die Gegenwart so schnell zu historisieren wie der Krieg.)
Kvedaravičius mag dies so nicht intendiert haben. Niemand kann mit letzter Sicherheit sagen, wie seine finale Version hätte aussehen können, auch wenn sein erster Mariupol-Film von 2016 Rückschlüsse zulässt. Doch der fragmentarische Zustand, in dem Bilobrova „Mariupolis 2“ belassen hat – ohne Musik, ohne Vorgeschichte, ohne Dramaturgie –, ist ein eindrucksvolles, erschütterndes Dokument der menschlichen Widerstandskraft unter unvorstellbaren Bedingungen.
Hochaktuelle Bilder und schon historisch
Kvedaravičius kehrte im März für Dreharbeiten nach Mariupol zurück, als die Stadt bereits in Trümmern liegt. Ein Gruppe Menschen hat sich um eine Kirche herum eingefunden, die Geflüchteten Unterschlupf bietet.
Der Regisseur filmt sie, überwiegend Männer, bei ihren Gesprächen oder wenn sie Leichen aus einer Ruine zerren, um ein Stromaggregat bergen zu können. Der Krieg kennt auch für die Überlebenden keine Moral.
Doch Kvedaravičius will keine „Schicksale“ erzählen, vielmehr beschreibt er die Condition humaine in der Postapokalpyse: Die Häuser sind dem Erdboden gleich gemacht, die Straßen menschenleer, ein Mann trauert um seine Frau, aber er spricht aus der Dunkelheit seines Verstecks. Nur eine Stimme ist zu hören.
Diese Kinobilder sind keine zwei Monate alt, noch hochaktuell und schon historisch. Nach dem Film, zurück im Tageslicht, brennt sich die Sonne umso gleißender in die Dunkelheit unserer Gegenwart.