Die großen Meisterstrategen
Vor 2500 Jahren gab es auch schon Fehleinschätzungen, monströse und gewaltige, denn es gab Versimplifizierung, und es gab Lügen, Intrigen, Unwissen sowieso, viel mehr Unwissen als heute, und vor allem gab es Hybris und von Letzterem reichlich.
Betrachten wir Xerxes, König der Perser. Der will den Hellespont, die heutigen Dardanellen, überqueren, ist 480 v. Chr. auf dem Weg zur selbstverständlich gelingen werdenden Eroberung Europas, anders kann Xerxes sich selbst und seine Vorhaben ja gar nicht betrachten, und er lässt zwei Brücken legen, über 360 bzw. 314 nebeneinander vertäute Schiffe und Boote hinweg (so erzählt es der Historiker Herodot).
(Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn per Mail unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer)
Sein Berater Artabanos findet den Aufwand verschwenderisch und fasst also Mut und warnt der König der Könige: Die Griechen seien erstklassige Kämpfer, und vor allem kämen nun dürre Gegenden, wie also das Heer künftig ernähren, denn die Entfernung zur Heimat wachse mit jedem Kilometer. Erschöpfung und Hunger könnten bereits vor der ersten Schlacht die Soldaten quälen, das Risiko sei zu groß, Rückzug, rät Artabanos.
Was man alles unterschätzt
Die „known unknowns“, wie Donald Rumsfeld einst sagte, werden vor den meisten Kriegen unterschätzt, Logistisches, das Wetter, die Versorgung mit Trinkwasser. Und hinzu kommt das, was niemand vorhersehen kann, die Zufälle des Lebens auch im Krieg, jene Pest, die Athen ausgerechnet während der Angriffe Spartas quält. Im Fall der Perser gibt es wilde Löwen, denen Xerxes’ Kamele bestens schmecken.
Xerxes sagt natürlich, ein wahrer Anführer müsse kühn sein, um handeln zu können; wer ständig alles hinterfrage, werde niemals irgendetwas erreichen. Und so geht er unter: langsam vorankommend, dann gar nicht mehr, dann geschlagen, dann nach Hause fliehend.
Gute Theoretiker, das schreibt John Lewis Gaddis in „On Grand Strategy“, würden aus der Geschichte ableiten, was sie heute für die Gestaltung der Zukunft bräuchten. Wer nicht alles abwäge, das passieren könne, dürfe sich sicher sein, dass einiges davon passieren werde. Das Ziel und die eigenen Mittel in Relation zueinander zu setzen sei gleichermaßen wichtig:
Verlust der Realität
Allmächtige Führer, so Gaddis, würden mit den Jahren zu Gefangenen der eigenen Grandiosität, sperrten sich selbst in Rollen ein, aus denen sie nicht mehr entkommen könnten.
Wladimir Putin sieht Bestätigungen seines Größenverfolgungswahns, weil es Bestätigungen gibt: Der amerikanische Eingriff in den Kosovo-Krieg, damals ohne vorherige Konsultation Russlands, später die amerikanische Irak-Invasion und noch später die 30 000 Lügen des US-Präsidenten Donald Trump sagen ihm alles, was er über die Integrität des Westens wissen will: welche Integrität? Und wie verweichlicht, wie handlungsgelähmt dieser Westen ist.
Putin sieht nicht, dass es sehr viel mehr Gegenargumente als Bestätigungen gibt. Er sieht die Stärken des Westens nicht, die der Demokratie ohnehin nicht, sieht also nicht, dass die Demokratie sich korrigieren kann, dass sie aus These und Antithese noch immer Synthesen erarbeitet, um Aufklärung, Erkenntnis ringt und nicht immer, aber doch nicht selten im ernsthaftesten Sinne konstruktiv sein will.
Er sieht die eigenen Schwächen nicht
Und irgendwann sieht der Herrscher eine Welt, die zwar stimmig, aber nicht mehr die wirkliche ist. Putin erkennt die Schwächen der eigenen Armee nicht, weiß nicht, wie er seine Soldaten ernähren und motivieren soll, was er ihnen oder den Eltern der toten Soldaten erklären soll, und die Entschlossenheit seiner viel zu vielen Gegner sieht er ohnehin nicht voraus, weshalb jede Grundannahme im maßlosesten Sinne dumm und der gesamte, über viele Jahre hinweg entwickelte Plan schier irre war.