So toll trieb es Tolstoi

Was für ein Kontrast! Über dem Eingang des Deutschen Theaters hängen die ukrainischen Farben, und drinnen, im Großen Haus, läuft ein neues Stück, das in dieser Form, in diesen Tagen, an einem politisch wachen, künstlerisch verantwortungsbewussten Staatstheater besser nicht gezeigt würde. Wo ist die Intendanz? Gibt es eine Dramaturgie, die sich solchen naiven Blödsinn mal genauer anschaut und eingreift?

Das ist passiert: Armin Petras, ein in Berlin bekannter Regisseur, der auch einmal Chef am Maxim Gorki Theater war, hat sich Leo Tolstois „Auferstehung“ vorgenommen. Sechshundert Seiten, heruntergebrochen auf knapp dreieinhalb Stunden. Viel Schwund ist bei Romanadaptionen immer. Hier aber will man sich schämen. Petras erzählt in seiner „Bearbeitung“ nicht einmal die Grundlinie der Geschichte. Und schon gar nicht schafft er so etwas wie Atmosphäre oder einen Ort, einen Zeitpunkt, an dem das spielen könnte, was sich in aller Kürze so zusammenfassen lässt: Ein junger Adliger schwängert eine Hausangestellte, sie sind wohl auch ein wenig verliebt. Vor Gericht sieht er sie, die inzwischen als Prostituierte arbeitet, Jahre später wieder. Sie ist des Mordes angeklagt, aber unschuldig, er sitzt unter den Geschworenen. Sibirien, lautet das Urteil. Er wirft alles hin und folgt ihr in die Verbannung.

Peinliche Klischees

Kein Happy End. Nur endlose Schuld und Sühne und Religionsunterricht. Tolstois letzter Roman von 1899 liest sich aber auch überraschend stark – als Justizkrimi, als massive Anklage gegen das russische System, ein Buch voller grandioser Beschreibungen der Landschaften und der Seelenzustände seiner Protagonisten.

Auf der Bühne des DT bekommt man aber nur peinliche Klischees zu sehen. Schauspieler an der Rampe, die mimen und machen. Petras lässt im ersten Teil eine Posse spielen, ein russisches Märchen mit Pappfiguren, und er pfuscht Tolstoi auch noch sinnlos ins Handwerk, wenn er die arme Katja noch einmal jünger macht. Hier ist sie dreizehn, bei Tolstoi achtzehn Jahre alt, als das passiert, was man eigentlich nur als Vergewaltigung bezeichnen kann. Spielt keine Rolle, denn zwischen den Schauspielern entsteht sowieso nie irgendeine Art von Beziehung. Es ist schon ein Kunststück, den alten Tolstoi in seiner massiven Gesellschaftskritik derart zu entschärfen. So schrullig und ein bisschen verrückt und rückständig, diese Russen, wie harmlos!

Verschwendung von Zeit und Geld

Nach der Pause – der Fluchtimpuls war selten stärker – kommt es noch viel schlimmer. Die Szenerie wechselt vom Gemütvollen ins Ausgelassene. Man fasst es nicht: Verbannung kann echt geil sein. Alle verstehen sich prima, es wird gelacht, die Revolutionäre schwadronieren munter über Darwins Evolutionstheorie und Werweißwasnoch, hier fühlt sich auch die Katja wohl. Nur der Fürst rennt mit dem Reisekoffer mürrisch im Kreis herum. Und als erfährt, dass die Frau, die er retten will, einen anderen heiraten wird, sagt er: Ach, so ist das. Auch egal.

Die Musik dröhnt, Technoparty im Straflager. Eine junge Schauspielerin zieht sich aus, muss sich ausziehen – Regieeinfall! – und beschmiert sich mit roter Farbe. Man glaubt zu träumen. In welcher Welt lebt dieser Regisseur? Ist das nur schief und misslungen oder vielleicht ein zynischer Kommentar zur russischen Invasion und Barbarei in der Ukraine, vor deren Botschaft um die Ecke, nahe dem Deutschen Theater, Blumen abgelegt werden und Kerzen brennen? Sah keiner im Haus das Desaster kommen?

Dem Programm ist beigelegt eine Rede von Tolstoi gegen den Krieg. Die Druckkosten sind verschwendetes Geld, wie diese „Auferstehung“ Zeit und Ressourcen verschleudert. So macht sich Theater überflüssig, jetzt.