Zwischen Vorfreude und Boykott: Sollte ich mir die WM-Spiele in Katar anschauen?
PRO von Christian Schröder
Zu den frühesten Erinnerungen, die ich mit einer Fußballweltmeisterschaft verbinde, gehört die sogenannte Schmach von Córdoba. Am 21. Juni 1978 verlor die bundesdeutsche Nationalmannschaft im dortigen Stadion mit 3:2 gegen Österreich und flog als amtierender Weltmeister überraschend bereits in der Zwischenrunde aus dem Turnier.
Eine Sensation, die der österreichische Radiokommentator Edi Finger mit dem legendären Ausruf „I wer’ narrisch!“ bejubelte. Ich war 13 und und schwer enttäuscht. In Deutschland sprach man von einer „Schande“. Die wirkliche Schande war allerdings eher, dass diese Weltmeisterschaft in Argentinien stattfand, das von einer Militärjunta regiert wurde, die tausende Menschen foltern und ermorden ließ.
Diktatoren und Autokraten nutzen weltweit beachtete Sportgroßveranstaltungen gerne, um von ihren Verbrechen abzulenken. Eine Form der Imagepflege, für die es inzwischen einen Fachbegriff gibt: Sportswashing. Notwendig ist dafür allerdings das Wohlwollen von Sportfunktionären, die sich von Machthabern vereinnahmen lassen. Beim Fußball-Weltverband Fifa gibt es solche Funktionäre.
Der Fifa scheint es vorrangig um die Maximierung von Einschaltquoten und Profiten zu gehen, dafür lassen sie sich auch mit fragwürdigen Herrschern ein. Das war nicht nur 1978 in Argentinien so, sondern auch bei der letzten WM, die 2018 in Russland stattfand, zu einem Zeitpunkt, als Putins Armee bereits die Krim annektiert hatte und einen schmutzigen, nicht erklärten Krieg im Donbass führte.
Ja, ich werde mir Spiele der Fußballweltmeisterschaft in Katar anschauen, aber ich tue es mit gemischten Gefühlen. Weil es eben nicht nur um Fußball geht, sondern auch um Politik und Moral. Eigentlich dürfte es diese WM nicht geben, nicht in diesem Land und nicht zu diesem Zeitpunkt. Bislang fanden alle Turniere im Sommer statt, aber weil es im Sommer in Katar irrsinnig heiß ist, machte die Fifa eine Ausnahme und verlegte die Spiele in die Vorweihnachtszeit.
Katar, das erste muslimische und arabische Land, in dem ein Fußball-WM stattfindet, ist weit entfernt von demokratischen Verhältnissen. Die Macht gehört einer absolutistisch agierenden Königsfamilie, es gibt eklatante Menschenrechtsverletzungen, Frauen sind nicht gleichberechtigt, Homosexualität ist strafbar und gilt als „geistiger Schaden“, wie der katarische WM-Botschafter sagte. Beim Bau der Fußballstadien sollen tausende Arbeitsmigranten gestorben sein.
Superreich durch Öl und Gas
Der Emir von Katar und sein Umfeld haben vermutlich geglaubt, dass die Weltmeisterschaft eine gigantische Werbeveranstaltung für ihren kleinen, dank Öl und Gas superreichen Wüstenstaat werden würde. Aber danach sieht es nicht aus, die Begeisterung im Rest der Welt hält sich in Grenzen. Katar steht unter kritischer Beobachtung, seit es 2010 von der Fifa den Zuschlag für das Turnier erhalten hatte. Inzwischen gilt es als erwiesen, dass die Entscheidung mit Hilfe von Schmiergeldern zustandekam.
Eines hat die Weltmeisterschaft bereits erreicht, bevor sie angepfiffen wird: Über Katar wissen wir mehr als je zuvor. Das Zitat des WM-Botschafters Khalid Salman über Homosexualität als „geistigen Schaden“ stammt aus der herausragenden ZDF-Dokumentation „Geheimsache Katar“.
Ein Strang des Films handelt von der Korruption in der Fifa, wobei auch zwei Rolex-Uhren vorkommen, die Karl-Heinz Rummenigge geschenkt wurden. Am Montag zeigt die ARD die Dokumentation „Katar – warum nur?“, in der das Schicksal von Arbeitern geschildert wird, die auf den WM-Baustellen gestorben sind.
Angefixt durch Gerd Müller
Seit 1974 habe ich keine Fußball-Weltmeisterschaft verpasst. Bruchstückhaft erinnere ich mich an den jubelnden Gerd Müller, damals wurde ich angefixt. Später habe ich Maradona gesehen, wie er 1986 mithilfe der Hand Gottes ein Tor schoss. Zinédine Zidane, der sich 2006 im Endspiel zu einem Kopfstoß provozieren ließ und vom Platz flog. Mario Götze, 2014 als Schütze zum 1:0 im Finale von Rio de Janeiro.
Triumphe und Abstürze, im Fußball verdichten sich Emotionen. Auf solche Momente hoffe ich auch bei dieser WM. Und darauf, dass es Spieler geben wird, die Zeichen setzen. Für Toleranz, gegen den Hass.
Christian Schröder kennt die Abgründe des Fußballs. Er ist Anhänger von Arminia Bielefeld.
CONTRA von Ronja Merkel
Es ist eine reichlich verblüffende Diskussion, die dieser Tage um die bald beginnende Fußball-WM in Katar geführt wird. Verblüffend insofern, als dass zu einer Frage debattiert wird, deren Antwort doch unmissverständlich klar sein sollte: Ist die Durchführung eines der wichtigsten internationalen Sportturniere in einem Land wie Katar moralisch vertretbar?
Oder anders gefragt: Möchte ich Verbrechen und Gewalttaten gegen unschuldige Menschen finanzieren? Denn was ist diese Weltmeisterschaft denn anderes als eine riesige Gelddruckanlage für einen Staat, in dem Menschenrechte nicht mehr sind als ein abstraktes Fremdwort.
Gehen wir einen Schritt zurück, zum Beginn der ganzen Misere. Die Allermeisten haben wohl inzwischen mitbekommen, dass es bei der Vergabe des Austragungsorts nicht ganz mit rechten Dingen zuging. Erst kürzlich räumte Sepp Blatter, ehemaliger FIFA-Präsident, gegenüber dem Journalisten Jochen Breyer ein, es sei eine „sehr bittere Enttäuschung“ gewesen, als er 2010 Katar als Gastgeberland der WM 2022 bekanntgeben musste.
Er sei damals naiv gewesen, habe an das „Gute im Menschen“ geglaubt und sich nicht vorstellen können, „dass man einfach jemandem Geld gibt“. Die Glaubwürdigkeit dieser Aussage sei dahingestellt.
Schon vergessen? Russland hat die WM 2018 ausgerichtet
Nun ist das sprichwörtliche Kind in den Brunnen gefallen, die WM findet in Katar statt, daran gibt es nichts zu rütteln. Dann kann man die Spiele ja auch schauen, bringt ja eh nichts mehr – oder? Wer diese Logik anwendet, macht es sich ähnlich leicht wie Sepp Blatter. Oder haben Sie etwa nicht in den vergangenen Monaten den Kriegstreiber Putin für die Invasion der Ukraine kritisiert? Möglicherweise sind Sie sogar auf eine Demonstration gegangen, haben Ihre Solidarität mit den Ukrainer:innen bekundet.
Was haben denn jetzt Russland und die Ukraine mit der Weltmeisterschaft in Katar zu tun, werden Sie sich an dieser Stelle vielleicht fragen? Sehr viel. Denn vor Katar war Russland – mit ganz ähnlichen Diskussionen, wie sie aktuell im Raum stehen. 2018 war das Land, das derzeit vor allem als Kriegsnation im Fokus steht, selbst WM-Austragungsort. Auch damals stritt die mediale Öffentlichkeit, ob man das Turnier boykottieren solle.
Russland achte die Menschenrechte nicht, hieß es damals. Auf den WM-Baustellen würden die nordkoreanischen Niedriglohnarbeiterinnen – ein hübsches Synonym für „Sklaven“ – ausgebeutet und misshandelt. Wie viele Menschen bei dem Bau der Stadien starben, ist bis heute nicht sicher. Auch heute in Katar wissen wir nicht, wie viele der überwiegend aus Südostasien stammenden Arbeiter:innen unter den unmenschlichen Bedingungen gestorben sind.
Die WM in Russland fand damals statt, die Public Viewing Hotspots liefen über. Nur vier Jahre später ist das damalige Gastland von der Teilnahme an der Fußball-Weltmeisterschaft ausgeschlossen. Der Grund: Die Invasion der Ukraine. Konsequent oder scheinheilig? Ich tendiere zu letzterem. Lange vor der WM von 2018 wusste Europa und die restliche Welt um die sich anbahnenden, kurz vorm Überkochen stehenden geopolitischen Konflikte.
Aber es war eben weit genug weg von der privilegierten Mehrheitsgesellschaft, um als Teil der solchen erfolgreich die Augen verschließen zu können. Angesichts der Menschenströme, die seit Monaten aus der Ukraine flüchten, ist dies nicht mehr möglich.
Passenderweise ließ sich Katar im Vorfeld der WM von Russland beraten, bei der Sicherheitskonferenz in Astana im Oktober dieses Jahres schwärmte der katarische Emir Tamim bin Hamad Al Thani geradezu von Putin und der sportpolitischen Zusammenarbeit mit den „russischen Freunden“. Katar ist Russland – einige Jahre später, noch etwas frauenfeindlicher, noch etwas homophober und statt Nordkoreaner:innen bluten dort überwiegend Südostasiat:innen.
Mit jedem eingeschalteten Fernseher fließt ein wenig mehr Geld in ein System, in dem wir selbst niemals würden leben wollen. In einen Apparat, der allem widerspricht, was unser demokratisches Werteverständnis ausmacht. In ein Land, das gegen Menschenrechte verstößt – aber eben nicht an Menschen, mit denen wir uns identifizieren können.
Ronja Merkel ist als gebürtige Kölnerin Kummer gewohnt. Dem Effzeh bleibt sie dennoch treu.
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