Die Welt kehrt an die Croisette zurück
Jodie Foster spricht am Dienstag dem Premierenpublikum im Festival Palais aus den Herzen. „Habt Ihr nicht auch den Glamour vermisst? Es fühlt sich gut an, wieder rauszukommen, oder?“ Sie tut dies in fließendem Französisch, zur Überraschung nicht nur des Jury-Vorsitzenden Spike Lee. Für Foster, die die Ehrenpalme erhält, ist Cannes ein besonderer Ort, hier hatte sie vor 45 Jahren, damals noch im Teenageralter, mit dem späteren Palmen-Gewinner „Taxi Driver“ ihren ersten großen Auftritt.
Ein Wiedersehen ist die 74. Ausgabe des Cannes Filmfestivals nicht nur für Foster, der Pedro Almodóvar eine kurze, aber sehr persönliche Laudatio hielt. Die Welt kehrt nach der einjährigen Pause an die Croisette zurück, auch der letzte Palmengewinner Bong Joon-ho steht als Botschafter des Kinos auf der Bühne des Grand Theâtre Lumière; es wird Französisch, Spanisch, Englisch und Koreanisch gesprochen. Die Eröffnungsgala hat, trotz Abendgarderobe, einen fast informellen Charakter. Das gilt anscheinend auch für das Corona-Protokoll.
In französischen Kinos herrscht Maskenpflicht, aber in Cannes sieht man das offenbar locker. Am Nachmittag sitzt Spike Lee bei der Jury-Pressekonferenz zwischen der österreichischen Regisseurin Jessica Hausner und der französischen Schauspielerin Mélanie Laurent als einziger ohne Maske. Auf dem roten Teppich hat Marion Cotillard die Maske schon aufgesetzt, entscheidet sich dann aber dagegen. Das Team des Eröffnungsfilms „Annette“ betritt den Saal maskenlos. Hat man den Glamour vermisst? Sicher. Aber so sehr nun auch wieder nicht.
Adam Driver wieder im Eröffnungsfilm
Dass der künstlerische Leiter Thierry Frémaux das „erste Festival einer neuen Ära“, wie es auf der Pressekonferenz heißt, mit einem Film eröffnet, der keine Gefälligkeiten im Angebot hat, ist der vielversprechende Auftakt eines vollen Programms in den kommenden elf Tagen. Leos Carax’ zweieinhalbstündiges Musical „Annette“ mit dem opernhaften Powerpop der amerikanischen Band The Sparks befördert einen Teil des Premieren-Publikums früh an die frische Luft.
Zugegeben, der französische Auteur ist ein spezieller Geschmack, sein letzter Film an der Croisette, „Holy Motors“, wartete unter anderem mit einer durch ein leeres Kaufhaus flanierenden Kylie Minogue und sprechenden Autos auf. „Annette“ ist ganz auf seine Stars Adam Driver – zum dritten Mal nacheinander in Cannes, zum zweiten Mal im Eröffnungsfilm – und Marion Cotillard zugeschnitten, die ein Celebrity-Ehepaar spielen. Der Film allerdings ist nach dem Baby der beiden betitelt, das von einer Holzpuppe dargestellt wird.
Vor allem aber erfüllt Carax eine Anforderung, von der auch die französische Regisseurin Mati Diop in ihrer Rolle als Jury-Mitglied spricht: Filme müssen immer ihre Zeit reflektieren, aber man dürfe das Kino nicht allein durch das Prisma der politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen betrachten. Das Kino könne seine Einzigartigkeit nur bewahren, wenn das Publikum offen bleibt für neue Erfahrungen.
Die Klatschpresse als griechischer Chor
Das gilt zweifellos für Carax, alles andere als ein Themenfilmer. Und auch wenn „Annette“ aktuelle Themenfelder wie MeToo, Celebritykult und Geschlechterbilder streift, ist es doch das Werk eines Filmemachers, der ganz in seiner eigenen Vorstellungswelt lebt. Mit den Sparks-Brüdern Ron und Russell Mael, die nicht nur die Musik, sondern auch das Drehbuch geschrieben haben, hat er zwei kongeniale Partner gefunden.
Adam Driver spielt den kontroversen Stand-up-Comedian Henry McHenry, zu dessen Markenzeichen es scheinbar gehört, im Bademantel aufzutreten; Marion Cotillard den Opernstar Ann, die auf der Bühne die schönsten Tode stirbt. Als die beiden öffentlichkeitswirksam zusammenkommen – er holt sie auf dem Motorrad von einer Premiere ab –, steht die Klatschpresse Kopf. Eine fiktive Boulevardsendung fungiert als griechischer Chor für das Traumpaar der Stunde, noch befeuert durch die Geburt ihres ersten Kindes mit Segelohren und Holzgelenken.
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Dass irgendwann der wahre Charakter Henrys durchscheint, deutet sich früh an. „Wie war dein Auftritt?“, fragt sie ihn zu Beginn. „Ich habe habe sie gekillt“, antwortet er. „Massakriert.“ – „Braver Junge!“, erwidert sie. Die schöne Muse, zum Sterben geboren, wird einer vitalistischen Männlichkeit geopfert. Carax hat ähnliche Geschichten schon früher erzählt, aber noch nie stand ihm dafür ein Starkörper wie der Adam Drivers zur Verfügung.
Geburtsszene mit Oralsex
Driver verkörpert einen neuen Männertypus im amerikanischen Kino; im Bademantel sieht er trotz Sixpack immer etwas ungelenk aus. Seiner Physis sind die Zweifel an der eigenen Unwiderstehlichkeit schon eingeschrieben. „Annette” ist einerseits ein sehr viriles Leidensdrama, aber ähnlich wie in Noah Baumbachs „Marriage Story“ arbeitet Driver subtil gegen die dunklen Züge seiner Figur an.
Ohne ihn würde der Film kaum funktionieren, das Publikum ist gewillt, ihm jede Schweinerei zu verzeihen. Die Moderatorin der Eröffnungsgala liefert gewissermaßen den Prätext zum Film, als sie kurz mit Adam Driver im Publikum flirtete und dann nach einem Griff an ihren Knopf im Ohr entschuldigend meinte: „Oh, ich höre, er ist verheiratet!“
Die Verve, mit der sich Carax in die Geschichte stürzt, ist mitreißend. Wohl niemand würde Driver einen begnadeten Sänger nennen, er rezitiert eher rhythmisch; Cotillard hatte sich bei ihrer Oscar-Performance als Edith Piaf noch damit begnügt, die Lippen stumm zu bewegen. Aber ein Musical mit einer gesungenen Montage aus Geburtsszene und Oralsex ist selbst für das verwöhnte Cannes-Galapublikum ein Novum. Zurück auf der Croisette, findet man sich mitten im Elfmeterschießen zwischen Italien und Spanien wieder, kurz vor Mitternacht ziehen italienische Flaggen durch die Straßen. Die Welt ist zurück in Cannes.