Auf der anderen Seite des Spiegels
Glücklich, wer sich die Geschichte kulturellen Austauschs am Beispiel großer Persönlichkeiten vergegenwärtigen kann. Von Männern, die ausziehen, um fremde Sitten und Gebräuche zu studieren und in ihren Reiseberichten ein Ungenügen an den eigenen Lebensverhältnissen anklingen lassen. Und von Frauen, die in der Ferne ihre Herkunft vergessen wollen oder dort ihre Wurzellosigkeit mit fanatischer Überanpassung kompensieren.
Verführerisch, zu behaupten, diese Geschichte sei mit dem 21. Jahrhundert an ihr Ende gekommen. Die Transferbewegungen werden wegen der zunehmenden Verflechtung von Ost und West, wie der Literaturwissenschaftler Elmar Schenkel in seinem Buch „Unterwegs nach Xanadu“ klagt, zweifellos unübersichtlich. Kein Missionar und keine Botschafterin kann mehr von etwas völlig Unbekanntem künden, kein Abenteurer sich gänzlich abseits des Massentourismus bewegen: Er kann nur dichter und lebendiger von seinen Reisen berichten.
[Elmar Schenkel: Unterwegs nach Xanadu. Begegnungen zwischen Ost und West. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2021. 368 Seiten, 26 €.]
Doch man tut gut daran, Schenkels ausdrückliches Absehen von postkolonialen Vermittlern wie Pankaj Mishra oder Parag Khanna nicht als Kapitulation zu deuten. Er ist vielmehr der Not geschuldet, seinen Figurenreigen überhaupt zu begrenzen. Es sind nicht erst die heutigen Warenströme, in deren Schatten sich kulturelle Traditionen kreuzen. Schon die alte Seidenstraße hat dies befördert, und die Neue Seidenstraße wird es in weitaus größerer Dimension und mit anderem Charakter wieder tun.
Shah Rukh Khan statt Tagore?
Elmar Schenkel wirft, mit Blick auf Indien, China und Japan, Schlaglichter auf die Vorgeschichte einer Globalisierung, deren kulturelle Aspekte in einem manischen Konsumkapitalismus zu ersticken drohen. So erspart er es sich womöglich, einen kulturpessimistischen Ton anzuschlagen. Denn er müsste, um ein aktuelles Bild zu zeichnen, nicht nur von den neuen Theoretikern einer postwestlichen Weltordnung erzählen, sondern auch von den popkulturellen Helden und Heldinnen dieser Globalisierung. Wo Rabindranath Tagore war, der indische Denker und Literaturnobelpreisträger, der nach dem Ersten Weltkrieg vor allem in Deutschland hofiert wurde, müsste Bollywood-Gott Shah Rukh Khan ins Zentrum rücken.
Wo der Theologe Richard Wilhelm, der sich auf seinerzeit deutschem Pachtgebiet in Qingdao so in China vernarrte, dass er als Übersetzer beschloss, das deutsche Lesepublikum für das „Yijing“ und die daoistischen Hauptwerke zu begistern begeisterte müsste nun Jackie Chan durch Hongkong und die Bronx turnen. Und wo der britische Schriftsteller Lafcadio Hearn, der sich in Japan Koizumo Yakumo nannte und dort als kultureller Brückenbauer bis heute verehrt wird, müsste man ihm einen Anime-Regisseur wie Hayao Miyazaki beigesellen.
Elmar Schenkel hat weder Berührungsangst vor populären Gegenständen noch vor einem feuilletonistischen Zugriff: Sein Interesse gilt allerdings jener im weitesten Sinn romantischen Phase kultureller Durchdringung, wie sie der Titel seines Buches andeutet – ohne dabei die gewaltigen kulturellen Unterschiede zwischen Indien, China und Japan zu verwischen.
Xanadu, ein Phantasma
„Unterwegs nach Xanadu“ bezieht sich auf die heute in Ruinen liegende, besser als Shangdu bekannte Sommerresidenz des mongolischen Kaisers Kublai Khan, wie auf das wilde Phantasma, das Samuel Taylor Coleridge in seinem berühmten Gedicht über Khan entwarf. Es ist ein Ort, den man nicht mehr betreten kann – und so nie betreten konnte. Denn es handelt sich um einen Traum von Spiritualität, der für harmlose Sinnsucher so offen ist wie für ideologische Usurpatoren anfällig.
Das Auftaktkapitel zu Indien schlägt einen Bogen vom Weltparlament der Religionen in Chicago 1893, wo der charismatische Swami Vivekananda vor einer westlichen Zuhörerschaft erstmals hinduistische Ideen in großem Stil vortrug, bis zum Siegeszug von Bhagwan Shree Rajneesh. Mit anderen Worten: von einer überzeugten Spiritualität zu einem kommerzialisierten Religionsbetrieb. Beide Geschichten sind zwar schon oft erzählt worden. Schenkels Verdienst liegt aber in den Episoden, die er dazwischen aufliest, und in der Summe, die sie bilden.
Wer kennt schon die österreichische Kunsthistorikerin Stella Kramrisch, eine Kommilitonin von Hermann Hesses dritter Frau Ninon, die in Kalkutta eine große Ausstellung mit Bauhaus-Künstlern organisierte. Wer die Französin Mirra Alfassa, die in Auroville Sri Aurobindos Lebensgefährtin wurde. Und wer Maximine Portaz alias Savitri Devi, die ihren Antisemitismus und ihre arische Ideologie in nationalistischen Hindu-Kreisen rücksichtslos auslebte.
„Unterwegs nach Xanadu“ sucht immer wieder nach den Rissen und den Ganzheitssehnsüchten in ihrer aller Biografien und macht kein Hehl daraus, dass Verwirrung und Verirrung oft nur einen Spaltbreit auseinanderliegen. Er setzt sich mit der nationalsozialistischen Begeisterung für die Methoden des Zen auseinander, wie sie sich bei Eugen Herrigel studieren lassen, dessen „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ bis heute ein internationaler Bestseller ist.
Madame Blavatsky und ihr Hokuspokus
Ausführlich widmet sich Schenkel den Geschicken der Theosophie, die aus der allzu schönen Idee, einen gemeinsamen Weisheitskern in allen Religionen, Philosophien und Wissenschaften zu entdecken, eine okkultistische Lehre unter der Anleitung der betrügerischen Seherin Madame Blavatsky und ihres ominösen Meisters im Himalaya sponn. Der junge Jidda Krishnamurti, den die Theosophische Gesellschaft zu ihrem Messias ausbilden wollte, nahm später nicht zu Unrecht Reißaus vor der Last, die er tragen sollte.
Das Buch ist in der Wissenschaftsreihe des S. Fischer Verlags erschienen. Entstanden aus jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Themenkosmos, liegt seine Leistung allerdings weniger in überraschenden Erkenntnissen als in der Zusammenschau dreier asiatischer Kulturen und deren Wechselwirkung mit dem Westen. Schenkel bereitet komplexe Sachverhalte, die sonst nicht unbedingt ins allgemeine Blickfeld rücken würden, kurzweilig auf.
Das entschuldigt nicht die Kurzatmigkeit, mit der Schenkel durch einzelne Kapitel rast, und das sichtbare Ungleichgewicht, mit dem er einzelne Figuren porträtiert. Ärgerlich oberflächlich, zumal für einen Anglisten, sind seine Bemerkungen zu Gary Snyder, dem zenbuddhistischen Kopf der Beat Generation und Vater der zeitgenössischen Ecopoetry.
Informationen aus zweiter Hand
Und seine Kenntnisse über den niederländischen Sinologen und Krimiautor Robert van Gulik bezieht er komplett aus Janwillem van de Weeterings Biografie. So reproduziert er etwa ungestört die Behauptung, Gulik habe die chinesische Laute gespielt. Wer dessen Buch über die Qin, die legendäre Wölbbrettzitther der Antike, aufschlägt, wird schnell entdecken, dass Gulik den Begriff der Laute nur verwendete, um das Instrument westlichen Lesern nahezubringen.
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Dieses Buch hat also einige blinde Flecken und unnötige Defizite, darunter ein Register, das die Orientierung sehr erleichtern würde. Fragwürdig ist seine Zuordnung der drei Kulturen zu Spiritualität (Indien), Philosophie (China) und Ästhetik (Japan). Irritierend auch Schenkels Versprechen, er könne sich ein zweites, mindestens so dickes Buch mit den Figuren vorstellen, die er hier übergehen musste: Treffen wir hier nun die wichtigsten Gestalten des Ost-West-Transfers oder nicht?
Gegen die mehr als ungnädige Rezension, die der Globalgeschichtler Jürgen Osterhammel vor wenigen Tagen in der „FAZ“ veröffentlichte, muss man Elmar Schenkel aber in Schutz nehmen: Sie richtet historiografische Erwartungen an dieses Buch, die es nie erfüllen wollte. Es ist ein Stück kaleidoskopischer Ideengeschichte, die noch in ihrem Entschwinden fortwirkt. Als solches entwirft sie ein Panorama auf, wie es farbiger derzeit nicht zu haben ist.