Neuer Schwung für Comic-Ikone Corto Maltese
Was ist da los? Seemannsmantel und -mütze fehlen, Corto Malteses Markenzeichen seit Hugo Pratt den Kapitän ohne Schiff 1967 für seine „Südseeballade“ geschaffen hat. Stattdessen eine Baseball-Kappe. Bastien Vivès und Martin Quenehen versetzen in „Corto Maltese – Schwarzer Ozean“ (Übersetzung Resel Rebiersch, Schreiber und Leser, 184 S., 24,80 €) die Hauptfigur ins 21. Jahrhundert, und zwar nicht einfach nur für ein weiteres Abenteuer. Wie für einen Marvel-Superhelden erzählen sie Corto Malteses Origin-Story neu und lassen sie quasi in einem Paralleluniversum stattfinden.
Dafür verpassen sie Corto eine Verjüngungskur. Er ist wieder Pirat und muss gewissermaßen seine Superkraft erst noch entdecken. Wie es sich für einen Anti-Helden geziemt, ist diese gar nicht so leicht zu fassen. Es ist wohl eine Art instinktiver Sinn für Gerechtigkeit, der sich gegen die vorgeblich verfolgten Profitmotive verlässlich durchsetzt, wenn es darauf ankommt.
Vivès und Quenehen liefern alle Zutaten, die eine gute Corto-Maltese-Geschichte ausmachen: ein Schuss mystische Exotik durch einen Geheimbund mit rätselhaften Symbolen; ein Schuss Erotik durch geheimnisvolle Frauen; und die lakonischen, oft poetischen Wortbeiträge, insbesondere in den Dialogen mit dem unvermeidlichen „Freund“ Rasputin, der Verkörperung einer Skrupellosigkeit, die Corto selbst nie hinbekommt. Und natürlich muss es einen Schatz geben, als handlungstreibenden MacGuffin.
Kriege sind gute Momente für Begegnungen von Menschen, sagte Pratt. In der „Südseeballade“ war es der Erste Weltkrieg. Auch in „Schwarzer Ozean“ gibt es zum Zeitpunkt der Geschichte ein epochemachendes historisches Ereignis, die Terroranschläge des 11. September 2001. Typischerweise hält sich Corto allerdings am Rande des Geschehens auf und nutzt die verstörenden Nachrichten von den Ereignissen in New York schlicht als Gelegenheit zur Flucht.
In „Schwarzer Ozean“ wird Corto gewissermaßen zu einem modernen Action-Helden. Vivès forciert dafür stellenweise den ganzen Rhythmus der Geschichte, um dann wieder einige Gänge herunterschalten, insbesondere für die erotisch aufgeladenen Szenen mit Corto und seiner alten Freundin Freya.
Böser Bube mit Sex-Appeal
Diese ist üppiger gezeichnet als die eher zierlichen Frauen Pratts und entstammt damit optisch sehr deutlich dem grafischen Vivès-Universum, das sich im Gegensatz zu den konturenreichen Linien Hugo Pratts durch einen flächigeren, weichen Ansatz auszeichnet. Freya kommt dem Helden auch näher als gewöhnlich – Pratt hatte es immer bewusst bei Andeutungen belassen.
Bei aller Modernisierung verliert Vivès‘ Corto keineswegs seine gewohnte freiheitsliebende Lässigkeit. Im Gegenteil, Vivès vollständig digital erstellte Zeichnungen fangen die Geschmeidigkeit und auch den Sex-Appeal des geheimnisvollen bösen Buben perfekt ein und schaffen mit ihren subtilen Grautönen und Schattenspielen eine perfekte, manchmal leicht verwaschene Umgebung für die oft nur angedeuteten Gesichter der Protagonisten.
Insbesondere bei den Stadtszenen sind die Panels gelegentlich voller als bei Pratt, aber dessen Stil wird eben auch nicht kopiert; es handelt sich um ein eigenständiges Werk, das aber den Geist und die Stimmung des Vorbilds atmet. Gleichzeitig bleibt Corto Maltese als Pratts Figur erkennbar, was dem Szenaristen zu verdanken ist, der anders als der Zeichner seit seiner Jugend mit der Reihe vertraut ist.
Noch ist unklar, ob es bei einem One Shot bleibt. Cortos Geste am Ende von „Schwarzer Ozean“ zeigt, dass das Zeitfenster für neue Abenteuer im neuen Universum gar nicht so groß ist: Nach der Jahrtausendwende beginnt das digitale Zeitalter so richtig und man kann sich nicht wirklich vorstellen, wie Corto Maltese der damit verbundenen Kontrolle (und Selbstkontrolle) ausgeliefert ist.
Aber immerhin: Die mit weniger Freiheiten ausgestatteten Diaz Canales und Rubén Pellejero, die seit 2015 Corto Maltese im Stil von Hugo Pratt fortsetzen, schicken ihren Protagonisten demnächst nach Prag.