In den Himmel gehoben
Erinnern Sie sich noch an „School of Rock“? Jack Black geht als falscher Musiklehrer an eine Schule, um den Kindern beizubringen, wie es sich anfühlt, in einer Rockband zu spielen. An der Schule von Naima Bock in London haben sie den Film auch gesehen. Und daraufhin das fiktive Projekt zum Vorbild genommen. Als die achtjährige Naima davon erfährt, will sie unbedingt mitmachen. So schreibt sie ihren ersten Song – ganz ohne zu ahnen, dass sie damit mal ihren Lebensunterhalt verdienen würde.
Letzte Woche, 17 Jahre später, ist ihre erste Soloplatte erschienen, „Giant Palm“ (Sub Pop). Es ist ein stimmiges Werk geworden, üppig instrumentiert, aber doch filigran in der Anmutung. Man merkt dem Album an, dass die Sängerin und Gitarristin trotz ihres immer noch jungen Alters viel mitgemacht hat.
Sie wuchs in São Paulo auf
Das ging schon los, als die Engländerin gerade auf die Welt gekommen war, in Glastonbury, dort, wo alljährlich das Riesen-Rockfestival stattfindet. Auf dem ist sie diesmal erstmals selbst aufgetreten, vor gut einer Woche. Ein überwältigendes, aber doch ambivalentes Erlebnis, wie sie berichtet.
In Menschenmassen bekomme sie Beklemmungen, sagt sie. „Ich bin immer noch fix und fertig.“ Für unser Telefonat sitzt sie bei einem Freund zu Hause, um die Ecke von ihrer Wohnung im Süden Londons. Im Schlafanzug, weswegen es auch kein Videocall wird.
Naima Bock erzählt, wie sie schon im Alter von ein paar Monaten ihren ersten Umzug erlebt hat. Nach Südamerika. Ihre griechische Mutter und ihr brasilianischer Vater – der auch deutsche Vorfahren hat, daher der Nachname – nehmen sie mit nach São Paulo. Dort wächst Bock die ersten sieben Jahre ihres Lebens auf, bevor ihre Eltern sich trennen, und sie mit ihrer Mutter zurück nach England geht.
Aus São Paulo bringt sie eine frühe musikalische Prägung mit. „Der Großteil meiner brasilianischen Familie sind klassische Musiker“, erklärt sie. Ihr Vater wiederum ist Sound Designer und nimmt sie immer wieder mit ins Studio. Zu Hause legt er Musik auf von brasilianischen Größen wie Caetano Veloso, Chico Buarque, Jorge Ben Jor, aber auch viel von den Beatles. „Das hat Eindruck auf mich gemacht“, sagt Naima Bock.
Der brasilianische Einfluss ist auf „Giant Palm“ heraushören. Am deutlichsten beim letzten Stück der Platte, das Bock auf Portugiesisch singt: eine Coverversion des sozialkritischen Klassikers „O Morro“ von Carlos Lyra und Gianfrancesco Guarnieri. Noch größeren musikalischen Einfluss auf ihr Debüt hatte jedoch Joel Burton.
Mit dem Musiker, Produzenten und Arrangeur arbeitet Naima Bock seit einigen Jahren zusammen. Zum ersten Mal ist sie ihm begegnet, als sie 15 war. Damals ging sie in London immer zu Open-Mic-Abenden, bei denen auch Burton auftrat. „Er sah aus wie Bob Dylan, spielte Bob-Dylan-Songs, – und ich liebte Bob Dylan“, erinnert sie sich. Das Ergebnis: Bock verknallte sich total in Burton, ohne ihn jedoch anzusprechen. „Es dauerte, bis ich 21 war, dass wir uns wieder trafen und anfingen, zusammen Musik zu machen.“
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Sie haben es dann sogar mit einer Beziehung versucht, aber das funktionierte nicht. Stattdessen sind sie gute Freunde geworden, die obendrein bestens im Studio harmonieren. Wenn Bock Songs schreibt, die Akkorde und die Melodie mitbringt, überführt Burton sie in seine Klangwelt, mit all ihren Bläser- und Streicherarrangements, Keyboard- und Synthesizer-Elementen.
Sein Studium der klassischen Musik prägt „Giant Palm“, das geht schon beim eröffnenden Titeltrack los. Die Synthies bohren und winden sich, passend dazu singt Naima Bock mit ihrer merkwürdig kehligen, tiefen Stimme, die sie bei Bedarf schön in die Höhe schrauben kann: „Life’s giant palm lifts me to the sky and for a while I forget that I cannot fly.“ Man hört sie förmlich durch die Luft schweben, emporgehoben von der gigantischen Handfläche des Lebens, bis sie vergisst, dass sie gar nicht fliegen kann.
Der Song wandelt sich, nimmt an Intensität zu, ebbt dann wieder ab. Dabei wohnt ihm eine Entspanntheit inne, als hätte Naima Bock sich arrangiert mit der Endlichkeit der Dinge, über die sie singt. Gleichzeitig klingen die Synthies wie aus dem Soundtrack einer Gruselserie aus den fünfziger Jahren: abgründig und drollig zugleich. Dieses Soundtrack-Gefühl kommt wiederholt auf.
Zum Beispiel bei „Campervan“, einem Song in drei Akten über das Ende einer Beziehung. Die Drums kreiseln jazzig, der Bass pulst hell darunter, Bocks Stimme taucht wie eines der Instrumente in den Sound hinein. Kurze Pause nach zwei Minuten, dann legt der Song erst richtig los, mit vollem Klang im Walzertakt, wobei die Bläserpartien an Neal Heftis Musik zur Komödie „Ein seltsames Paar“ von 1968 denken lassen.
Im Laufe von „Giant Palm“ glimmen die unterschiedlichsten Bezüge auf: von King Crimsons jazzigen Progrock-Etüden bis hin zum mittelalterlich angehauchten Folk von Midlake. Nur eins lässt sich nicht raushören: der Post-Punk von Naima Bocks alter Band Goat Girl. Mit 15 hat sie die Gruppe mit ein paar Freundinnen gegründet. Erfolgreich: Zwei Alben erschienen, die Band wurde gefeiert.
„Ich kam zu einem Punkt, an den sich viele Musiker wünschen: Ich konnte von der Musik leben“, erzählt die damalige Bassistin. Dann die Ernüchterung: „Ich war überrascht, wie unglücklich ich mich als Teil der Musikindustrie gefühlt habe.“
Mit 21 Jahren stieg sie aus. Sie sei zu jung gewesen, um zu wissen, wie sie auf sich aufpasse, formuliert es Bock. Sie litt an Depressionen. Mit ihrem Solo-Projekt fühlt sie sich nun ungleich zufriedener. Die Musikerin hat mehr Kontrolle: „Ich fahre selbst und manage mich auf Tour“, erklärt sie. Das sei anstrengend, aber auch erfüllend. Gleichzeitig sehe sie das Touren mehr als einen Job an, und nicht mehr als Non-Stop-Party.
So sehr Naima Bock das Musikmachen liebt, hat sie doch verschiedene Wege gefunden, innere Zufriedenheit zu erlangen. Sie begibt sich immer wieder wochenlang auf Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela. Gleichzeitig hat sie angefangen, Archäologie zu studieren. Klar: Gerade legt sie eine Pause ein, weil es mit der Musik so gut läuft. „Aber wenn ich das an die Wand fahre, gehe ich halt zurück an die Uni“, sagt sie und lacht. Die School of Rock hat sie schließlich längst absolviert.