Der Schrei steckt zwischen den Zeilen
21. Juni 2022
Mit dem sozialen Netzwerk MySpace fing vor 20 Jahren eine ganz neue Ära für Musiker an. Man brauchte nur vier eigene Songs und ein paar Fotos hochzuladen, um Teil einer gigantischen, globalen Musiker-Community zu werden.
Ich erstellte binnen zehn Minuten ein MySpace-Profil und freundete mich am Ende des Tages mit David Byrne, Iggy Pop und einem Dutzend osteuropäischer Underground- Bands an. Mit manchen von ihnen pflegte ich dann jahrelange Brieffreundschaft, zum Beispiel mit dem ukrainischen experimentellen Trio Ya i drug moy gruzovik (Ich und mein Freund LKW).
Moskauer Freunde meinten, als Künstler soll man unpolitisch bleiben
Die Jungs lebten in Dnepropetrovsk und sangen auf Russisch, wie viele postsowjetische Bands aus dieser Zeit. Mit ihrem minimalistischen gitarrenlosen Sound hätten sie genauso gut nach Berlin oder New York gepasst.
2003 nahmen sie eine EP mit einer anderen Band auf, der ich auf MySpace folgte, Deti Picasso aus Moskau. Die Gründer der Band, die Geschwister Arutyunyan, zogen später nach Budapest, ich habe sie auf einer Ungarn-Tour kennengelernt.
Die Zeiten änderten sich, Dnepropetrovsk wurde 2016 zu Dnipro, Ya i drug moy gruzovik gab es nicht mehr, Sänger Anton Slepakov zog nach Kiew (wo er eigentlich herkam) und starte neue Projekte. Die Aturutunyans, die nach Moskau zurückkehrten, haben ich zum letzten Mal vor drei Jahren getroffen.
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Sie berichteten vom abwechslungsreichen Musikleben in russland und als ich sagte, dass meine ukrainischen Freunde und ich mit allen meinen Bands das Land seit der Okkupation der Krim boykottieren, hatten wir eine lange Diskussion. Meine Moskauer Freunde meinten, als Künstler soll man unpolitisch bleiben und für alle spielen, denn gute Menschen gibt es überall.
Letzte Woche schrieb mir die Charkiwer Kuratorin und Veranstalterin Alena Vorobiova. In meiner Heimatstadt kennt Alena alle und alle kennen sie und lieben sie auch. In der letzten Zeit sieht man sie öfter als früher, da ihre Töchter nach Berlin gezogen sind. Alena fragte, ob bei mir eventuell ein Zimmer frei wäre – sie organisiert ihr erstes Berlin-Konzert und ist auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit für Anton.
Es ist Anton von Ya i drug moy gruzovik! Zwar musste ich feststellen, dass ich das Konzert verpasse, da ich in Erfurt spielte, aber Anton ist natürlich herzlich willkommen, schrieb ich Alena.
Fast emotionslos wirkt Antons Stimme
Als ich am späten Montagabend wieder nach Hause komme, ist Anton noch in meiner Wohnung. Wir bleiben lange in der Küche und sprechen. Wir, russische Muttersprachler, unterhalten uns auf Ukrainisch und es fühlt sich ganz natürlich an. Seine Texte schreibt Anton jetzt auch auf Ukrainisch. In Berlin präsentierte er letzten Samstag sein neues Programm, eine Art Kriegstagebuch, oft ungereimte Skizzen vom Kriegsleben in Kiew, die er monoton zu einem minimalistischen elektronischen Klangteppich rezitiert.
Bis vor einigen Tagen war er in Kiew und erlebte alles, was die Hauptstadtbewohner in den letzten Monaten durchmachen mussten. Auch wenn er in diesen neuesten Kompositionen fast emotionslos wirkt und seine Stimme sich kaum erhebt, seine Texte schreien, der Schrei versteckt sich zwischen den Zeilen. Der Schmerz. Die Wut.
Wir haben viele gemeinsame Freunde – irgendwann trommelte bei Ya i drug moy gruzovik sogar ein Schlagzeuger, der Anfang der Neunziger in meiner ersten Band dabei war. Bei einer ihrer Touren ist er in russland geblieben und plötzlich im März in Berlin aufgetaucht. Ich frage Anton, ob er noch Kontakt zu Deti Picasso hat. Ich erinnere mich, wie ein Jahr nach unserer Begegnung in Berlin der Krieg in Berg-Karabach begann und sie auf Social Media politisch wurden.
Sie schrieben, dass Gott in diesem Krieg auf der Seite des armenischen Volkes steht, und verkauften alle ihre Gitarren, um der Bevölkerung Berg-Karabachs zu helfen. Gestern sah ich den neuesten Instagram-Post ihrer Sängerin. Schöne lächelnde tanzende Menschen. „Mit ihrer Wärme umarmt Moskau die Freunde der Stadt“, lautete die Bildunterschrift. „Wie habe ich das alles vermisst!“
Nein, antwortet Anton, in den letzten Monaten haben sie mir nicht geschrieben. Mir auch nicht, sage ich.
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