Elisabeth Leonskaja in Berlin: Bukolische Zuspitzungen
Es war eine lange Berlin-Woche für Elisabeth Leonskaja, die – am vorigen Freitag mit Edvard Griegs Klavierkonzert eingeleitet – nach unter anderem Klavierrezitals, Meisterkursen und Kammermusik mit zwei Brahms-Konzerten im Konzerthaus ihr Ende findet. Die Verehrung der sympathisch bescheiden gebliebenen Pianistin erschöpft sich keineswegs in dem beträchtlichen Event-Pensum oder einem eifrig produzierten Filmporträt.
Im Programmheft werden Zitate Leonskajas sämtlich in Großbuchstaben wiedergegeben. Weihevoll anmutend ist da von „Wahrheit“ oder von „Heiligen Regeln“ die Rede; es gelte nicht „sich in der Musik“, sondern „die Musik in sich“ zu suchen. Doch wie klingt das?
Deklamatorisches Pathos
Die Gemeinsamkeiten des ersten Klavierkonzerts op. 15 von Brahms und Schumanns 4. Symphonie op. 120 beschränken sich nicht auf Tonart oder die Ähnlichkeit der Eröffnungsgeste, die ein harmonisch instabiles Geschehen über einem exponierten Orgelpunkt initiiert. Dass beide Komponisten sehr lange unsicher über die finale Gestalt der Werke blieben, hängt vor allem mit dem Aspekt der Formkonzeption zusammen.
Für den ersten Satz eines Solokonzertes war es im 19. Jahrhundert üblich, eine Sonatenform anzulegen. In vielerlei Darstellungen als „dramatisch“ beschrieben, soll sich ein jeder musikalische Augenblick aus dem vorhergehenden entwickeln.
In Brahms’ Konzeption des ersten Klavierkonzertes finden sich zwar noch die tradierten, diese Form konstituierenden, Haupt- und Seitenthemen, allerdings auch noch viele weitere. So stehen Interpreten vor der Herausforderung, beständig zwischen dramatischem Drive und epischer Erzählung vermitteln zu müssen.
Leonskaja findet im ersten Satz zu einem nachgerade dramatischen Zugang. Das Hauptthema ist formidabel – eben maestoso – profiliert, Oktavpassagen geraten wuchtig und akkumulieren im Pedal zu orchestraler Größe.
Auch wenn dieses ausgreifend deklamatorische Pathos oft zu gewinnen vermag, so wird hier doch eine Schwäche offenbar: In aufopfernder Hinwendung zum Detail will Leonskaja bisweilen zu viel. Wenn beispielsweise die Oktavkaskaden zu Beginn der Durchführung so langsam und massiv anlaufen, dass die gut gemeinte Wirkung im Pedalnebel verpufft. Aufhorchen lassen dann viele falsche Noten oder eine etwas ungestüm hervorbrechende Leidenschaft.
Nicht sich in der Musik suchen, sondern Musik in sich.
Elisabeth Leonskaja, die Grande Dame der russischen Klavierschule
Wenn andererseits das Seitenthema noch so wunderbar lyrisch gerät, so tendiert die Binnenspannung folgender „epischer“ Passagen zu implodieren. Schon das zweite Thema der Orchesterexposition hatte einschläfernd gewirkt, der Auftakt zum dritten versandete anschlusslos.
Schließlich kann der flotte dritte Satz in bukolischer Zuspitzung versöhnen. Dass die letzte Achtelnote des viertaktigen Hauptmotivs in Orchester und Klavier immerzu staccato genommen wird, erscheint dann aber doch als ein bisschen zu humorig.
Schumann versuchte sich in der Vierten dem Formproblem der Beethoven-Nachfolge mittels Einheit zu stellen. Immer wieder tauchen dieselben Motive auf; formal lassen sich 1. und 4. Satz für sich, die Symphonie aber auch in Gänze als Sonatensatz begreifen.
Das Konzerthausorchester, das Leonskajas Brahms-Programm nun Schumanns 4. Symphonie gegenüberstellt, musiziert durchweg souverän und engagiert. Zuweilen könnte der Bläserklang integrierter sein, aber auch kleine Intonationsmängel (Holz) und leicht ungeordnete Passagen (etwa die accelerando-Strecke der Einleitung des 4. Satzes) wiegen kaum schwer.
Michael Sanderling zeigt sich entschlossen darin, Geschlossenheit vorzuführen. So wird zur Gestaltung von Steigerungen stets dynamisch abgebaut, die Tempi sind frisch und laufen zielgerichtet gen Finale. Nur im Stretta-Rausch bleibt ein subversiver Zweifel, ob die Schumann’schen Reichtümer da nicht doch zu stramm verrauscht sind. Wäre in „epischen“ Mittelteilen oder Wiederholungen nicht noch mehr zu entdecken gewesen?