Schwebende Wirklichkeiten: Martina Hefter gewinnt den Deutschen Buchpreis
Ein Schlüsselsatz in Martina Hefters Roman „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ lautet: „Solange ich spiele, passiert nichts.“ Seine Protagonistin, benannt nach der römischen Göttin Juno, spricht darin aus, dass es kaum etwas Tröstlicheres gibt, als den Schein aufrechtzuerhalten und die Dinge mit fantastischen Behauptungen in der Schwebe zu halten.
Und weil sie zugleich weiß, dass alles Untröstliche bereits geschehen ist, ist sie vielleicht die ehrlichste Lügnerin, die man sich vorstellen kann.
Nigerianische Liebesschwindler
Juno, heißt es in der Jurybegründung zum Deutschen Buchpreis, „ist Mitte 50, führt ein prekäres Leben als Performance-Künstlerin in Leipzig und pflegt ihren MS-kranken Mann. In schlaflosen Nächten chattet sie mit einem nigerianischen Liebesschwindler, der es auf ihr Geld abgesehen hat. Es stellt sich die Frage, wer hier wen ausbeutet – und was passiert, wenn wider Erwarten die Grenzen zwischen digitalem Spiel und realer Zuneigung verschwimmen.“
Das ist es: Auch virtuelle Ausflüchte entfalten Wirklichkeitseffekte. Und wenn sie Posts schreibt, die bewusst die Love-Scammer am anderen Ende überfordern, dreht sie den Spieß nicht nur um: Sie erfindet eine Gegenwelt; sie probiert, was Fiktionen mit ihrem Leben und dem von anderen tun. Und das macht nicht zuletzt das Leben mit ihrem Mann Jupiter, der nebenan im Pflegebett liegt, ein Stück leichter,
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Der Buchpreis ist für die Lyrikerin, Performancekünstlerin und Tänzerin Martina Hefter der Höhepunkt eines Jahres, in dem ihr zuerst der Große Preis des Deutschen Literaturfonds zuerkannt wurde, dann der Literaturpreis der Landeshauptstadt Wiesbaden – beide in Anerkennung ihres Gesamtwerks, das seine Stärken in den letzten Jahren vor allem im Dichterischen hatte. Dieser in nur einem Jahr geschriebene, mit autobiografischem Material jonglierende Roman ist eine respektable „Kompromissentscheidung“ (Jury-Sprecherin Natascha Freundel) in einem schwierigen Umfeld, denn der Buchpreis muss es vielen rechtmachen. Auch der Buchhandel will davon profitieren
Ronya Othmanns „Vierundsiebzig“, ein verstörender, aus autobiografischen, dokumentarischen und reportagehaften Schichten bestehender Roman über den irakischen IS-Genozid an den Jesiden im Jahr 2014, hätte vor allem als Entscheidung für politische Relevanz gegolten. Maren Kames‘ „Hasenprosa“, aus dem Geiste Friederike Mayröckers geschrieben, lebt ganz vom sprunghaften Eigensinn sprachlicher Bewegungen.
Clemens Meyer wiederum hat sich mit seinem 1000-Seiten-Monstrum „Die Projektoren“ Karl May als Schutzheiligen eines Epochenromans ohne Maß und Ziel gewählt. Markus Thielemanns Wolfs-Roman „Vom Norden rollt ein Donner“ aus der Lüneburger Heide versucht vielleicht allzu deutlich, den Bogen zu den rechtsextremistischen Gefahren dieser Tage zu schlagen. Und Iris Wolffs „Lichtungen“ über eine schwer wiederzubelebende Freundschaft aus rumänischen Ceausescu-Zeiten hat etwas Pittoreskes.
Jupiters Gegenbuch
Zusammen mit Hefters Roman sollte man aber unbedingt das Buch lesen, das ihr Göttergatte, mit bürgerlichem Namen Jan Kuhlbrodt, geschrieben hat. Was sie spielerisch angeht, verwandelt „Krüppelpassion“ (Gans Verlag) in Szenen und Reflexionen, die den von der Multiplen Sklerose erzwungenen Abschied vom gewohnten Leben in einer seltenen Mischung aus Nüchternheit und Selbstironie inszenieren.
So untersucht er etwa den Zusammenhang von Gehen und Denken, das die antiken Peripatetiker zum Ideal erhoben. Der Kampf um geistige und körperliche Beweglichkeit, den die Tänzerin Martina Hefter führt, ist vielleicht nur eine andere Weise, mit dieser beide Seiten lähmenden Herausforderung umzugehen.